Heft 
(1978) 28
Seite
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Beziehungen weitgehend von ethnographischen Gesichtspunkten leiten ließ. Es heißt in dem Abschnitt über Lebensweise, Sitten und Tracht der Wenden:Die Frage ist oft aufgeworfen worden, ob die Wenden wirklich auf einer viel niedrigeren Stufe als die vordringenden Deutschen gestanden hätten, und diese Frage ist nicht immer mit einem bestimmten ,Ja beantwortet worden. Sehr wahrscheinlich war die Superiorität der Deutschen, die man schließlich wird zugeben müssen, weniger groß, als deutscherseits vielfach behauptet worden ist.-

Im folgenden liefert Fontane den Nachweis, daß die Slawen keinesfalls auf einem niedrigeren Entwicklungsniveau standen als die Deutschen. Er schreibt über ihren Häuserbau, über das Ansehen slawischer Handels ­städte. über slawische Kultur, über Bergbau. Ackerbau und den Web­stuhl. Auch gegen den Vorwurf von bürgerlicher Seite, die Slawen wären falsch und untreu, wendet sich Fontane. Die Deutschen sahen ihre Haltungen und Handlungen von vornherein als gerechtfertigt an, doch offenbarte sich ihre Heuchelei mehr als einmal.*

Die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Slawen und Deutschen begannen unter Karl dem Großen. 789 fiel ein fränkisches Heer in das Gebiet der Lutizen ein, und es begann die Unterwerfung des lutizischen Stammes. Im 9. Jahrhundert, als der Untergang des fränkischen Reiches nicht mehr aufzuhalten war, konnten sich die Slawen von der frän­kischen Vorherrschaft befreien. Doch schon ein halbes Jahrhundert später betrieb Heinrich I. die energische Eingliederung der slawischen Gebiete in das deutsche Reich. Mit dem groß angelegten Feldzug von 982 begann die erste Etappe der feudalen deutschen Ostexpansion, die mit der Unterwerfung aller westslawischen Stämme endete. Das Christen­tum, in den Dienst der Eroberungen gestellt, sollte die Expansionspolitik rechtfertigen.

Über die Politik Heinrich I. schreibt Fontane:Es war eine endlos ausgesponnene Kette, in der jedes einzelne Glied so Ursach wie Wirkung war. Die deutsche Grausamkeit schuf wendische Aufstände, und den wendischen Aufständen folgten erneute Niederlagen, die, von immer neuen Grausamkeiten des Siegers begleitet, das alte Wechselspiel wieder­holten.'

Hier schon deutet sich an, was sich in Fontanes weiterer Analyse und Darstellung als eine Tendenz abzeichnet: der ethisch-moralische Aspekt der Rolle der Gewalt in der Auseinandersetzung der Stämme und Völkerschaften. In der Grausamkeit der Deutschen sah Fontane eine wesentliche Ursache für das Ausbrechen wendischer Aufstände. Das natürlich ist gleichbedeutend mit dem Gegensatz, daß den feudalen Eroberungskriegen der Franken und Sachsen der gerechte Kampf des um seine Freiheit ringenden wendischen Volkes gegenüberstand. Wo in der deutschen Geschichtsschreibung waren bis dahin die deutsch- slawischen Beziehungen von solchem weltanschaulich-politischem Blick­winkel gesehen worden? Ohne Zweifel erschien dies zeitgenössischen bürgerlichen Berufhistorikern Grund genug, sich von Fontanes histo­rischen Betrachtungen abzuwenden.

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