Wirklichkeit des Geschehens hat dies nichts zu tun, es formt sich alles aus Fontanes eigener Psyche und seinem literarischen Vermögen. Zu seiner Psyche gehört die Lust an der sehr egoistischen Motivierung des Unheimlichen, Grausigen, ganz gleich ob, wie in „Grete Minde“, dabei eine ganze Stadt verbrennt oder in „Ellemklipp“ der Vater seinen Sohn tötet. Nicht, daß er dies tut, erfährt der Leser als grausige Anomalie, sondern daß er dies ohne eine Spur von Scham und Reue tut und für lange Zeit noch trägt, sich in Freuden den Gewinn dieses Mordes nimmt, die Ehe mit dem Mädchen Hilde. Das Urteil, das Fontane über Napoleon in der Schlacht von Austerlitz gibt, pointiert auch seine eigene Psyche: „Er (Napoleon) hat sich nie glänzender bewährt als in dieser Austerlitzer Aktion, auch in Nebensächlichkeiten nicht, auch nicht in jenen Impromptus und witztigen Einfällen auf dem Gebiet des Grausigen, die so recht eigentlich das Kennzeichen des Genies sind.“ 5 1879, während seines Sommeraufenthaltes in Wernigerode, da er die Idee für „Ellemklipp“ faßt, schreibt er diesen Satz im Konzept zu „Schach von Wuthenow“, bereitet damit nicht auf dem Schlachtfeld, aber auf dem Feld seiner schöpferischen Produktion einen Einfall auf dem Gebiet des Grausigen vor. •
Seine Arbeitsweise ist seit Jahren die gleiche, wie er dies’ schon 1872 mitteilt: „Ich sammle jetzt Novellenstoffe, habe fast ein ganzes Dutzend, will aber mit der Ausarbeitung nicht eher vorgehn, als bis mir noch mehr zur Verfügung stehn. Es liegt für mich etwas ungemein Beruhigendes darin, über eine Fülle von Stoffen disponieren zu können.“ Das Auswahlprinzip aus solcher Stoffsammlung gibt Fontane dann sehr genau an: „Sogenannte .interessante Geschichten“, wenn es Einzelvorkommnisse sind, sind gar nicht zu gebrauchen; es kommt immer auf zweierlei an: auf die Charaktere und auf ein nachweisbares oder poetisch zumutbares Verhältnis von Schuld und Strafe. Hat man das, so findet der, der sein Metier versteht, alles andre von selbst. Die Nebendinge lassen sich erfinden, aber die Hauptsache muß gegeben sein; diese Hauptsache ist aber in der Regel ganz kurz, während die Nebendinge in die Breite gehen.“ 5
Ob es Fontane gelang, psychologisch einsichtige Charaktere zu schaffen, teilt schon nach dem ersten Erscheinen der Erzählung die Kritik mit. Schwärmt eine: „Für verwöhnte Leser eine willkommene Lektüre“, so sieht eine andere: „Der Mange] der Erzählung liegt in der Entwicklung der Charaktere. Mitten durch die Erzählung geht etwas wie ein Riß.“ 7 Dieser Riß geht durch die eigentliche Hauptfigur der Erzählung, den Pflegevater Baltzer Bocholt. Das „nachweisbare oder poetisch zumutbare Verhältnis von Schuld und Strafe“ ist hier kaum gegeben, nachweisbar überhaupt nicht, poetisch zumutbar auch nicht. Obwohl Fontane den Bocholt einleitend wie durchgängig als die alles entscheidende und handelnde Person darstellt, sieht er seine ureigenste poetische Schöpfung, das Mädchen Hilde, als die Hauptfigur, nicht die historisch vorgegebenen, Vater und Sohn.
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