Liebe, verehrte Charlotte Jolles.
Dies ist der schönste Auftrag, den mir die Redaktion der „Fontane-Blätter“ je übertragen hat: ich darf Ihnen dieses Heft als ein Zeichen der Hochachtung zu Ihrem siebzigsten Geburtstag dedizieren.
Wie dem alten Fontane, so fehlt auch Ihnen der „Sinn für Feierlichkeit“, und wenn schon des Jubiläums gedacht werden soll, ist Ihnen diese Form des offenen Briefes sicher lieber als eine steife Laudatio. Dies glaub ich annehmen zu können, nachdem wir bei mehreren Ihrer DDR-Besuche gemeinsam auf Fontanes Spuren durch die Mark gewandert sind und seit vielen Jahren in Th.-F.-Angelegenheiten korrespondieren. Obwohl ich Sie längst als die Nestorin der modernen Fontane-Forschung bezeichne (vielleicht habe ich’s Ihnen nie expressis verbis gesagt), fällt es mir gar nicht leicht, mit Ihnen als einer Siebzigerin zu rechnen — nicht nur wegen Ihrer Ausdauer bei jenen Wanderungen, mehr wegen der jugendlichen Souveränität, mit der Sie im Detail wie im Überblick bei Fontane zu Hause sind — zu Hause seit über vierzig Jahren.
Die wissenschaftliche Fontane-Rezeption dieses Jahrhunderts ist ja ohne Ihre profunden Arbeiten überhaupt nicht denkbar. Ich weiß: Ihre liebenswürdige Bescheidenheit wird diese Feststellung nicht dulden wollen. Doch wem verdanken wir denn jene grundlegenden, durch umfassende Archivstudien fundierten Untersuchungen über „Fontane und die Politik“ (1936) und „Fontane und die Ära Manteuffel“ (1937/38) ? Darin sind nicht nur die gültigen Erkenntnisse über den jungen Fontane der achtundvierziger Zeit festgehalten, darin dokumentiert sich auch — bedenkt man die Erscheinungsjahre — ein Grad von intellektueller Redlichkeit, von menschlicher Integrität, der zum Respekt nötigt. Kurz vor Ausbruch des zweiten Weltkrieges verließen Sie das faschistische Deutschland und emigrierten nach London. Dort nahmen Sie schon bald die Gelegenheit wahr, den ganzen Umfang von Fontanes Beziehungen zu England zu untersuchen. Die ersten England-Jahre wurden „Lehrjahre“ im weitesten Sinne (und für Fontane wie für Charlotte Jolles gilt, was Sie, Fontane zitierend, 1967 zur Überschrift Ihres ersten Aufsatzes für die „Fontane-Blätter“ wählten: „ ... an der Themse wächst man sich anders aus als am Stechlin“).
Als dann zu Beginn der sechziger Jahre die weltweite Entdeckung und Wiederentdeckung Fontanes einsetzte, meldeten Sie sich erneut zu Wort. Ich denke an die bibliographische Übersicht über Fontanes Beiträge für Periodika (1960) und an Ihre dokumentarische Quellenstudie über Fontanes Mitarbeit an der Dresdner Zeitung (1961). Es folgten Ihre beispielhaften Editionen. Text und Kommentar zu zwei wichtigen Bänden der Nymphenburger Fontane-Ausgabe („Aus England und Schottland“ sowie „Geschichte und Politik“) weisen Ihre unverkennbare Herausgeberhandschrift auf. und schließlich führten Sie, nach dem Tode Kurt Schreinerts, die Herausgabe jener vierbändigen Briefausgabe zu Ende, ohne die wissenschaftliche Arbeit heute kaum möglich wäre.
Sie haben sich, wie wenige, auf der produktiven Grenzlinie von Forschung und Edition angesiedelt, und ich bewundere immer wieder die Sorgfalt,
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