.nicht-ideologische Weitsicht' 1 eigen (S. 232), die — nach Lucien Goldmann und Kafitz — die Voraussetzung dichterischen Schaffens von hohem künstlerischem Rang sein soll.
Die — irreführende — Schlußfolgerung daraus würde besagen, daß erst eine ideologiefreie Weitsicht die Erkenntnis der Widersprüche gestattet. In Wirklichkeit aber wurden die Widersprüche in der bürgerlichen Gesellschaft Deutschlands mit ihren feudalen Restbeständen in den späten Romanen Fontanes und Raabes vor allem deshalb schärfer herausgearbeitet, weil sie damals stärker ausgeprägt waren als etwa zur Zeit des Erscheinens von „Soll und Haben“. Und natürlich war bei der dichterischen Gestaltung der Widersprüche Engagement in Sachen der Politik und der Ideologie förderlich.
Kafitz lehnt also eine vorausgehende Analyse der jeweils herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse von seinen theoretischen Positionen her ab. Er erliegt der neoliberalen Illusion, als könne es eine „nicht-ideologische Weitsicht“ geben, und operiert z. T. mit vagen Begriffen. So gelangt er über die erwähnte vorläufige Bestimmung des Wirklichkeitsbezuges „ex negativo“ nicht hinaus. Daß er dennoch die Romane unter neuen Gesichtspunkten interpretiert und neue Erkenntnisse zu gewinnen vermag, muß ebenso anerkannt werden wie die prinzipielle Berechtigung seiner Fragestellung. An seiner Methode indessen, die von seinen ideologischen und literaturtheoretische Grundüberzeugungen bestimmt wird, und folglich an manchen seiner Ergebnisse müssen Zweifel erlaubt sein. Insbesondere im Hinblick auf „Elfi Briest“ schreibt Kafitz z. B.: „Anders bei Fontane, der, der Pluralisierung und Partikularisierung der Wirklichkeit Rechnung tragend, auf ein festes Ordnungsschema verzichtet und sich auf begrenzte Figurenbilder konzentriert, die in nuce die Antinomien des Daseins akzentuieren. Nicht den parteipolitisch engagierten Liberalen Freytag und Spielhagen, sondern dem distanzierten Beobachter Fontane gelingt es, den Grundwiderspruch des bürgerlichen Liberalismus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, den Auseinanderfall von liberalem Freiheitsprinzip und staatlich-gesellschaftlicher Notwendigkeit, der eine öffentliches und privates Sein verbindende, ganzheitliche Persönlichkeits- entfaltung ausschließt, dichterisch zu gestalten“ (S. 160). Es ist zu fragen: Was sind das für „Antinomien des Daseins?“ Welches „Dasein“ ist gemeint? Steht hinter dem, was Fontane darstellt, wirklich der „Auseinanderfall von liberalem Freiheitsprinzip und staatlich-gesellschaftlicher Notwendigkeit“ ? Wäre nicht etwas über die Beschaffenheit und geschichtliche Berechtigung dieser „Notwendigkeit“ zu sagen gewesen? Und vor allen Dingen: welchen Einfluß hatte die Entwicklung der gesellschaftlichen Verhältnisse in den vier Jahrzehnten zwischen dem Erscheinen von „Soll und Haben“ und von „Effi Briest“ auf die Veränderungen des Gehaltes und der Struktur der dichterischen Aussage? Erst wenn diese Fragen konkret beantwortet werden, lassen sich die brauchbaren Ansätze zu einer Analyse des Wandels der Romanstrukturen, die Kafitz sehr wohl bietet, besser nutzen.
— Dr. Joachim Krueger, Berlin —