Heft 
(1979) 30
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lichkeit ab (S. 87). Gleichwohl möchte Kafitz an anderer Stelle den Roman nicht so sehr alsAbbild, sonder eher alsVorbild,Leitbild und Vorausbild betrachtet wissen (S. 21).

Der passiven Funktion, die Kafitz Theorie der Dichtung zuweist, entspricht ein nur loses Verhältnis zwischen Dichtung und Wirklichkeit, so daß zwischen Wirklichkeit und Werk nicht etwa einekausale Determiniert­heit, sondern lediglich einEnsprechungszusammenhang besteht (S. 21). Die solchermaßen behauptete Eigenständigkeit der Dichtung erlaubt die Existenz einerEigenlogik der Romanfiguren (S. 20), einerLogik der fiktiven Romanwelt (S. 170). Und unter diesen Bedingungen versteht es sich auch, daß Kafitz, wiederum Lucien Goldmann folgend, nichtvon der bedingenden gesellschaftlich-sozialen (sic!] Situation ausgeht, sondern von derWerkanalyse, wenn Strukturhomologien ermittelt werden sol­len (S. 26).

Kafitz Werkanalysen führen zu dem Ergebnis, daß die Struktur der untersuchten Romane Freytags und Spielhagens in einemganzheitlichen, den Einzelfiguren und Einzelsituationen ihren Stellenwert zuteilenden Ordnungsgefüge bestehe, während bei Fontane einePriorität der Ein­zelgestalten und begrenzten Situationen vor dem umspannenden Kon­text vorliege (S. 156). Auch bei Raabe sei dasgeschlossene Kompositions- gehäuse gesprengt (S. 229).

Den Grund für den Strukturwandel, der sich bei Fontane und Raabe gegenüber Freytag und Spielhagen vollzogen hat, sucht Kafitz zunächst in den sich verändernden Auffassungen der Dichter von den Beziehungen zwischen Gesellschaft und Individuum. Man könne sagen, ..daß Frey tag öffentliche und private Sphäre noch als Einheit erlebt, bei Spielhagen bereits Spannungen deutlich werden, die dann bei Fontane und Raabe als Gegensatz zwischen staatlich-gesellschaftlichen Strukturzwängen und individuellem Gestaltungswillen in Erscheinung treten, als Antagonismus, der humane Gegenkräfte provoziert, aber letztlich unüberbrückbar bleibt (S. 64). Bei Raabe stellt Kafitz einAuseinanderfallen von bürgerlich­liberalen Wertvorstellungen und staatlich-gesellschaftlicher Ordnung" fest (S. 229).

Andrerseits jedoch und das scheint für Kafitz das gewichtigere Argument zu sein soll sich der Strukturwandel einfach daraus ergeben, daß Fontane und Raabe über ein reicheres und differenzierteres Weltbild verfügten, was nach Kafitz Meinung politische und ideologische Abstinenz voraus­setzt. Fontane und Raabe, legt Kafitz dar, zeichneten sich durch ihre Offenheit für dieVielschichtigkeit der Wirklichkeit mit all ihren Widersprüchen und Spannungen aus (S. 156, 229). Das ermöglichte ihnen ein distanziertes, kritisches Beobachten. Dagegen habe bei Freytag und Spielhagen daspolitische Engagement, die Wahrnehmung geprägt, bei ihnen seieine wirklichkeitsausiegende Ideolodie Nährboden des Welt- und Menschenbildes gewesen. Sie hätten eineparteipolitische Perspek­tive gehabt (S. 156), diepolitische Tendenz habe die Struktur ihrer Romane bestimmt. Freytag sei von einerdogmatisch eindimensionalen Weitsicht ausgegangen (S. 229). Dagegen sei Fontane und Raabe eine

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