dem Novellisten jedoch nicht in gleicher Weise gerecht wird. Fontanes Einwand gegen den Subjektivismus und Lyrismus der frühen Stormschen Novellen macht ihn offensichtlich blind für die Schönheiten und die Größe manches späteren Werkes, nicht zuletzt für den Gipfel der Erzählkunst Theodor Storms: den „Schimmelreiter“.
Hinzu kommt ein Weiteres: Bei seiner Menschenschilderung pflegte sich Fontane von keinerlei persönlichen oder gesellschaftlichen Rücksichten leiten zu lassen. Er haßte jede Art „Schönrednerei“ ; ihm ging es — übrigens genau wie Storm — um nichts als die Wahrheit, oder genauer: um das, was er für wahr hielt. Immer wieder haben gerade die Widersprüche einer bedeutenden Persönlichkeit ihn zur Darstellung gereizt, und im Falle Storm sogar in einem ganz besonderen Maße. „Storm ist ein vorzügliches Thema“, schrieb er im November 1892 an Georg Friedlaender, „aber man muß ihn persönlich gekannt haben; was über ihn gedruckt worden ist, ist alles schwach ... Storm wird nämlich erst interessant, wenn man über seine Schwächen und Schrullen nicht hinwegsieht; man muß den Mut haben, auch seine Ridikülismen zu schildern, dann wächst er und wird eine volle Figur.“ 4 ' 1
Nur indem wir Fontanes Urteilen über Storm weder kritiklos zustimmen noch sie verständnislos ablehnen, erschließt sich uns das komplizierte Verhältnis der beiden Dichter. In dem Bild, das Fontane von Storms Werk und Persönlichkeit entworfen hat, spiegelt sich zugleich er selbst als Mensch und als Künstler. Nicht für oder gegen den einen oder den andern sollte hier Partei ergriffen werden. Storm wie Fontane haben ihren festen Platz im Bestand der deutschen Nationalliteratur, die ohne beider Werk nicht gedacht werden kann.
Anmerkungen
1 Ungedruckter Brief vom 22. Mai 1868 (Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek. Kiel).
2 Theodor Fontane, Literarische Essays und Studien. Erster Teil. Gesammelt und herausgegeben von Kurt Schreinert. München 1963. S. 150 (Briefentwurf vom Mai 1859). — Im strikten Gegensatz zu Fontane empfand Kurt Tucholsky, der ebenfalls die Lyrik Storms sehr geschätzt hat, die „Späten Rosen“ als dessen „stärkste Novelle“. (Nach: Kurt Tucholsky in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Dargestellt von Klaus-Peter Schulz. Hamburg 1959. S. 148.)
3 Thomas Mann. Briefe 1889-1936. Herausgegeben von Erika Mann. Berlin und Weimar 1965. S. 102 ff. (Brief vom 30. August 1910).
4 Theodor Fontane, Briefe an die Freunde. Letzte Auslese. Herausgegeben von Friedrich Fentane und Hermann Fricke. Berlin 1943. Band 1. S. 196.
5 Briefe Theodor Fontanes. Zweite Sammlung. Herausgeber: Otto Pniower und Paul Schlenther. Berlin 1910. 2. Band, S. 380 f. (Brief vom 2. März 1896).
6 Von Zwanzig bis Dreißig. Der Tunnel über der Spree, 2. Kapitel (Fußnote).