er im Jahre 1883; beständig verstoße er gegen den Satz „Gebet dem Kaiser, was des Kaisers, und Gott, was Gottes ist“. Erbarmungslos überliefere er „die ganze Gotteswelt seinem Keller-Ton“. 41 Thomas Mann hat in seinem eingangs erwähnten Essay über den „alten Fontane“ zu diesem Vorwurf Stellung genommen. Seine treffende Bemerkung läßt sich analog auch auf Fontanes. Verhältnis zu Storm anwenden. „Die Wahrheit zu sagen“, schreibt Thomas Mann, „so trifft der Einwand, den Fontane gegen Keller erhebt, wenn es ein Einwand ist, ihn selber nicht weniger oder kaum weniger als diesen. Auch er hat die ganze Gotteswelt seinem Fontane-Ton überliefert; und wer“, fragt Thomas Mann und fragen wir mit ihm, ..wer möchte es anders wünschen?“ 42
Ich habe meine Ausführungen auf Fontanes Urteile über Storm beschränken müssen; denn Storm hat sich mit dem „eigentlichen“ Fontane, will heißen: mit dessen reifem erzählerischem Alterswerk, soviel ich sehe, nicht auseinandergesetzt — mit einem Werk, dessen gewichtigste Teile ja auch erst nach Storms Tod bekannt geworden oder entstanden sind. Meine Absicht war es, den Ursachen über die Ambivalenz der Fontane- schen Äußerungen über Storms Werk und Persönlichkeit nachzuspüren, und ich hoffe, gezeigt zu haben, daß die scheinbar widersprüchlichen Urteile, das Nebeneinander von Bewunderung und Abwehr, ihre Ursache in nichts weniger haben als in Fontanes angeblicher Charakterlosigkeit. Die Methode, einen Gegensatz zu konstruieren zwischen Talent und Charakter, das Talent auf Kosten des Charakters zu „retten“ oder zu' „verteidigen“, wird besonders von der deutschen bürgerlichen Literaturkritik seit langem praktiziert. Schon Goethe beklagte sich gegen Eckermann: „ ... da man nun an mein Talent nicht rühren kann, so will man an meinen Charakter.“ 43 Im Falle Heinrich Heine ist der gleiche Vorwurf bis heute nicht verstummt, und in jüngster Zeit sind vor allem Thomas und Heinrich Mann sowie Bertolt Brecht von ihm betroffen worden. Charakterlosigkeit ist, wie mir scheint, die primitivste Formel, um mit den widersprüchlichen oder auch bloß unbequemen Urteilen und Ansichten eines Autors fertig zu werden.
In dem eingangs zitierten Brief an Storm vom 22. Mai 1868 spricht Fontane von den unterschiedlichen Geschmacksbedürfnissen der Genießenden. Damit bekennt er sich zu einem Relativismus der Literaturkritik. Man mag in der Fontaneschen Betrachtungsweise etwas Bedenkliches sehen — und hat damit vom Standpunkt einer wissenschaftlich fundierten Kritik aus zweifellos recht; Fontane selbst jedoch dürfte der Vorwurf, im Grunde fälle er bloß subjektive Geschmacksurteile, wenig gekränkt haben. Wie jeder Schriftsteller von Format konnte und wollte auch er von den eigenen künstlerischen Absichten und Schaffensprinzipien nicht abstrahieren, wenn er über fremde Werke und ihre Autoren schrieb. So kommt es, daß er zwar den Lyriker Storm ohne Einschränkung bewundert und würdigt,
261