ihn den „bedeutendsten Liebeslyriker seit Goethe “ 15 —, hob er aus dem novellistischen Werk gerade solche Beispiele hervor, die keine Liebesgeschichten sind. Fontanes erste ausführliche Würdigung galt einer Novelle, in der Storm, nach seinen eigenen Worten, die Liebe „absichtlich vermieden“ hatte: „Auf der Universität“. — „Eine wirkliche Tragödie, wie sie das Leben täglich spielt, keine Jammergeschichte“ 30 so urteilte Fontane 1862, lange bevor er in „Stine“ ein verwandtes Thema auf seine Weise behandeln solltet
Überall dort aber, wo Storm erotische Beziehungen novellistisch gestaltet, reagiert Fontane geradezu allergisch. Wir sahen das schon an seiner satirischen Kritik der „Späten Rosen“; noch drastischer äußert er sich über die „Waldwinkel“-Novelle, die ihm „im höchsten Maße unerquicklich“ ist: „ein wahres Musterstück, wie man’s nicht machen, wie Kunst nicht sein soll“. 37 Der intensive Gefühls- und Stimmungsgehalt jener erotischen Novellen ist für Fontane nichts anderes als Stormscher „Bib- ber“, welcher nicht näher zu definierende märkische Ausdruck allerdings im höchsten Grade geeignet ist, ein wesentliches Element der Stormschen Poesie zu desavouieren. Daß auch dabei wieder sehr viel spontane Abwehr im Spiele ist, geht aus einer brieflichen Kontroverse hervor, die Fontane im Jahre 1883, nach Vollendung der Erzählung „Graf Petöfy“, mit seiner Frau führte. Emilie Fontane hatte ihre Kritik in die Worte zusammengefaßt: „Liebesschilderungen, merkt man Dir doch sehr an, sind nicht Deine Sache; ein Tröpfchen von Storms ,Bibber“ könnte meinem Geschmack nach nicht schaden.“ 38 Darauf erwiderte Fontane fast gereizt, er wisse sehr wohl, daß er kein Meister der Liebesgeschichte sei; „keine Kunst kann ersetzen, was einem von Grund aus fehlt. Daß ich aber den Stormschen ,Bibber“ nicht habe, das ist mein Stolz und meine Freude.. .“ 39
Fontane hat es Storm wiederholt zum Vorwurf gemacht, daß dieser sein poetisches Prinzip zum alleinigen Maßstab dichterischen Schaffens erhoben habe. Storm habe sich „mit der deutschen Literatur verwechselt“, heißt es in dem oben erwähnten Storm-Nekrolog, und er sei „tot“ gewesen für alles, was jenseits seines Bereiches lag. 40 Gewiß hat er damit nicht ganz unrecht: denken wir nur daran, daß Storms gesamte Lyrik- und Novellentheorie eigentlich nichts anderes ist als eine ästhetische Begründung und Rechtfertigung seines eigenen Dichtens. Doch gilt nicht genau das gleiche auch für Fontane, schlägt nicht sein gegen Storm erhobener Vorwurf auf ihn selbst zurück? Auch Fontane kann nicht umhin, zumindest die Prosadichtung seiner Zeit an seinen eigenen schriftstellerischen Intentionen zu messen.
Einen ganz ähnlichen Vorwurf wie den gegen Storm hat Fontane auch gegen Gottfried Keller erhoben. Keller kenne kein „suum cüique“, schreibt
260