Während sich Storms Novellistik, nach dem eigenen Bekenntnis des Dichters, aus seiner Lyrik entwickelt hat 31 , ist Fontanes erzählerisches Alterswerk aus der feuilletonistischen Prosa, aus den englischen Reisebüchern und den „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ erwachsen. Epische Breite und umfassende Darstellung eines gesellschaftlichen Panoramas kennzeichnen Fontanes beste und reifte Alterswerke. Verinnerlichung der menschlichen Beziehungen und Dichte der Atmosphäre sind wesentliche Kriterien von Storms Novellistik.
„Ich bedarf äußerlich der Enge, um innerlich ins Weite zu gehen“ 32 — dieses Altersbekenntnis Storms bezeichnet den genauen Gegensatz zu Fontanes Lebensmaximen und Kunstprinzipien. Fontane bedurfte der äußeren Befreiung aus der Enge der nachrevolutionären preußisch-deutschen Verhältnisse, um sich auch innerlich von deren politischen, moralischen und gesellschaftlichen Vorurteilen und Konvenienzen loszusagen. Es ist gewiß ungerecht, zumindest sehr einseitig und subjektiv, zugleich aber auch höchst charakteristisch, daß Fontane den überwundenen Standpunkt dann mit dem Begriff des „Stormschen“ identifiziert.
Anfang September 1855 reiste Fontane als Mitarbeiter der ministeriellen preußischen Presse nach England, wo er bis zum Januar 1859 blieb. Während dieses seines dritten England-Aufenthaltes schrieb er am 20. September 1858 an den ehemaligen „Tunnel“-Gefährten Wilhelm von Merckel: „Ich bin nicht zufrieden hier mit meinem Leben und wünschte tausenderlei anders, das aber segne ich und stimmt mich zum herzlichsten Dank gegen mein Geschick, daß ich aus dem heraus bin, was ich mit einem Wort das .Theodor Stormsche“ nennen möchte, aus dem Wahn, daß Husum oder Heiligenstadt oder meiner Großmutter alter Uhrkasten die Welt sei.“ 33 Von hier aus erklären sich jene schroff ablehnenden Urteile, die Fontane über einzelne Stormsche Novellen gefällt hat.
Ungeteilte Zustimmung zollt er vor allem den Chroniknovellen, mit Ausnahme von ^,Aquis submersus“, dessen Schluß ihm „etwas Schiefgewickeltes“, d. h. einen Kompositionsfehler zu haben scheint. Im übrigen aber lobt er hauptsächlich solche Geschichten, die wir eher als Nebenwerke bezeichnen möchten, weil sie die für Storm typische Intensivierung des Geschehens und der Stimmung vermissen lassen: „Im Brauerhaus“, „Zur ,Wald- und Wasserfreude““, „Der Herr Etatsrat“. In der ersten Erzählung imponiert ihm die beinahe parabolische Fabel von der „Macht des bloßen Geredes“, des „erbärmlichen Geträtschs“. Die beiden anderen Werke hebt er wegen des Typischen ihrer männlichen Hauptfiguren hervor, des „heruntergekommenen Spekulationsmenschen“ Tobias Zipper wie des grotesken Etatsrates. 34
Während Fontane Storms erotische Gedichte bis an sein Lebensende unvermindert bewundert hat — in einem seiner letzten Briefe noch nennt er
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