■ I
Wl.y
Mi',
m.
FONTANE
BLÄTTER
Band 2, Heft 1
(1819-1969)
1969
THEODOR FONTANE
Unveröffentlichter Brief an seine Frau
Ich schreibe Dir, ohne daij ich rechten Stoff hätte. Heute vormittag war ich von 12 bis 3 in der National-Galerie, deren erste Hälfte ich neulich bloß besprochen habe, 1 und ging bei hellem Sonnenschein zurück; hier hatte ich den Rosenth.- Tor-Omnibus benutzt, der für alle Gänge in die Stadt fast der beste für uns ist; er passiert Schauspielhaus, Opernhaus, Schloij, Museum etc. Auf dem Heimwege ging ich natürlich die Linden hinunter und wurde wieder recht an mein englisches Wort vom „nine-days-wonder"- erinnert. Vor dem Hause No. 18 sah ich mir auch den Baum an, der von einigen zwanzig Schrotkörnern getroffen und gestreift wurde. Es müssen 2 furchtbare Schüsse gewesen sein und N. ein brillanter Schütze. Wie schnell wird heute gelebt und vergessen! Von den 280 Ertrunkenen, von dem Verlust eines Schiffes, das 8 Mill. Mark gekostet, 3 spricht kein Mensch mehr, das .Attentat" 4 machte jedes andre Interesse tot, und nun ist auch das Attentat schon wieder halb beiseite gelegt. Der Kaiser wird wieder genesen, Nobiling wird sterben und damit basta; „gehen wir", wie mein Freund Behr 5 damals sagte, „zu interessanteren Gegenständen über". Das einzige, was die Menschen noch länger als 3 Tage in Anspruch nimmt, ist eine Sängerin, ein Sensationsroman und die Meinin- gerk
Die heut. N ummer der Kreuz-Zeitung, die ich beilege, enthält so ziemlich alles, was zu wissen not tut; aus dem Extra-Blatt ersiehst Du die Zimmer-Beschaffenheit, auch ist der Brief des „jungen Börsenmannes" (höchst lächerliches Wort) gut und anschaulich. Die „Gegenwart" 7 schicke ich wegen Lindaus 8 Kritik über das „Wintermärchen" mit; ich bin nur an ein paar Stellen mit ihm
1