daß in der deutschen Literatur noch „der große Berliner Roman fehle, der die Gesamtheit unseres Lebens schildert, — etwa wie Thackeray in dem besten seiner Romane ‘Vanity fair“ in einer alle Klassen umfassenden Weise das Londoner Leben geschildert hat.“ 4 Von Glaßbrenners, Frenzeis, Kretzers und Mauthners Zeichnungen des Berliner Lebens meinte Fontane, daß seine Zeitgenossen „sich zu sehr mit einzelnen Erscheinungen abgeben“. Auf die Frage „...sind diese Schilderungen des Lebens ein Bild von Berlin-W., ein Bild unserer Bankiers-, Geheimrats- und Kunstkreise?“ antwortet er mit einem entschiedenen „Nein!, weil das Versöhnliche, das Milde, das Heitere, das Natürliche darin fehlt..." Die Aufgabe des Romans sieht Fontane nicht nur darin, „Dinge zu schildern, die Vorkommen oder wenigstens Vorkommen können... Das wird der beste Roman sein, dessen Gestalten sich in die Gestalten des wirklichen Lebens einreihen, so daß wir in Erinnerung an eine bestimmte Lebensepoche nicht mehr genau wissen, ob es gelebte oder gelesene Figuren waren ...
Indem Fontane Bilder aus dem Leben der Hauptstadt und ihre spezifische Atmosphäre in seinen Roman einfließen ließ, verlieh er ihm eine größere Glaubwürdigkeit.
Das zentrale Motiv des Romans ist das Motiv der sozialen Ungleichheit. Fontane behandelt einen Konflikt, der einen ausgeprägten sozialen Charakter hat; er wendet sich dem aktuellen Problem der Unüberwind- lichkeit von Standesbarrieren zu, die den Grund für die Tragik der Helden bildet, obgleich er bei der Lösung deutlichen Irrtümem und Mängeln ausgeliefert ist.
Grundlage des Sujets ist die ziemlich einfache Geschichte der Liebesbeziehungen eines Adligen und eines einfachen Mädchens. Obwohl Fontane recht alltägliche Ereignisse schildert, verstand er es, verallgemeinernde Schlußfolgerungen zu ziehen. Die Gefühlssphäre und die persönlichen Erlebnisse werden zum Ausgangspunkt der Kritik am System der gesellschaftlichen Beziehungen mit ihrer Ungleichheit und verlogenen Moral. Der Held des Romans, der Offizier Botho von Rienäcker, und die Näherin Lene Nimptsch begreifen sehr wohl, daß eine Ehe zwischen ihnen unmöglich ist, weil sie auf verschiedenen Gesellschaftsstufen stehen. Botho muß unter dem Zwang der Umstände und der Familie seine reiche Kusine Käthe von Sellenthin heiraten und Lene den Fabrikmeister Gideon. Obgleich Botho für Lene aufrichtige und starke Gefühle empfindet, denkt er an eine Ehe mit ihr nicht. Überdies begreift Lene selbst ausgezeichnet, daß die Unüberwindlichkeit der sozialen Barrieren sie unausweichlich von Botho trennen. Das Geschlecht der Rienäckers ist verarmt, und nur die Verbindung mit der reichen Kusine kann alles wieder ins rechte Lot bringen. Die Freunde Bothos äußern sich zynisch und offen darüber: „ ... er hat 9 000 jährlich und gibt 12 000 aus ... Heiraten ist für Rienäcker keine Gefahr, sondern die Rettung.“ 6
Botho selbst ist durchaus kein Kämpfer; er hat einen schwachen Charakter und ist egoistisch; bei einem Vergleich mit Lene zieht er zweifellos in vielem den Kürzeren. „Wer bin ich? Durchschnittsmensch aus der so-
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