Heft 
(1980) 31
Seite
586
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Prozeß der Geschichte und dem Werden der Natur für den Menschen selbst entnimmt. Diese Konzeption des Realismus bezieht sich nicht auf irgend­eine spezifische stilistische oder gattungsmäßige Erscheinungsform literarischer Werke, vielmehr auf die produktive Weise ihrer Geschicht­lichkeit selbst. Das heißt: die geschichtsbildenden und die wertschaftenden Kriterien fallen im Prinzip zusammen . 4 Im Prinzip, denn im einzelnen bildet das darin enthaltene Spannungsfeld den für den einzelnen Dichter wie für seine Rezeption fruchtbaren Arbeitsraum.

In einem solchen, stärker kommunikativ orientierten Modell vom Kunst­werk (Kunst als gesellschaftliches Verhältnis) werden die Wechselbezie­hungen zwischen Literatur und Gesellschaft, Autoren und Lesern sowie vermittelnden Institutionen, aber auch solchen zwischen Traditionen (Konventionen) und Neuansätzen (im Blick auf neue individuelle wie historisch-soziale Lebens- und Wirkungsbedingungen) ins Zentrum der Betrachtungen gerückt. Wahrheits- und Realismus-Gehalt von Kunst und Literatur sind in diesem dialektischen und materialistischen Sinne nichts ein für alle Male Festzuschreibendes. Im Gegenteil, sie umgrenzen Werte und Impulse von geschichtsphilosophischer Reichweite, deren Fruchtbarkeit für die nachfolgenden Prozesse in Kunst und Gesellschaft aus der immer neuen Begegnung mit den historisch gewordenen Entwürfen erwächst. Der objektive Einwirkungsgrad (die Funktion), nicht zuletzt die Impuls­qualität vergangener Überlegungen für die Gegenwart und dies keines­wegs nur innerliterarisch verstanden bezeichnen eine solche Realismus­vorstellung.

Fontane kommt diesem weiten Ansatz der Betrachtung (vielleicht gerade, weil er kein System entworfen hat) entgegen. Realismuskriterien hat er nicht als Eigenschaften künstlerischer Texte allein verstanden. Seine Suche nach Maßstäben für die eigene Produktion kreist das Problem ein, in dem er die realen Lebensverhältnisse seiner Zeit eng mit der Frage nach der künstlerischen Wahrheit und den Methoden zu ihrer Gestaltung zu verbinden trachtet. Und selbst da, wo wir heute neue Fragen stellen, deren Terminologie ihm fremd war, vor allem Fragen zur Funktion der Literatur, lassen sich im Kontext seiner Äußerungen zum Schaftens- prozeß, zu Genrefragen (Romantypen), zu den literarischen und den sozia­len Bewegungen und Kämpfen seiner Zeit, vereinzelt auch in Bemer­kungen über Autoren und Leser (Publikum), Geschmack und objektive Zwänge des Marktes, interessante Einblicke gewinnen. Fontanes Suche nach einem zeitgenössischen Realismus bildet einen wesentlichen Teil seiner Selbstverständigung und lebenslangen Auseinandersetzung. Fon­tanes theoretische Bemühungen sind Teil der kunstpraktischen Ausbildung einer Methode, die historisch-konkrete Erfahrungen, Überlieferungen und weiterweisende Momente zu verbinden trachtet.

II. Bezugspunkte für einen Grundriß

So wenig eng und (allein mit Fontane) mitgehend seine Schriften zu inter­pretieren sind, so nahe wie möglich an deren Gedankenführung und wechselseitiger Verknüpfung muß doch vorgegangen werden. Kontexte