Trotz vielfacher Berufung auf Klassik und Romantik (bei gleichzeitiger Abstoßung von deren Inhalten) setzt Fontane niemals beim Konzept der Autonomie des Kunstwerkes an. Schließlich gelangt er zu der in den Kämpfen der 80er Jahre gewonnenen Einsicht, daß übersteigerte Subjektivität als Freiraum menschlicher Individualität (wie sie die Romantik als Reflex auf das neue bürgerliche Zeitalter stilbildend eingebracht hatte) nicht zu seiner Vorstellung von einem zeitgenössischen Realismus passe. Andererseits ist ihm auch die Identität mit klassisch-bürgerlichen Entwürfen nicht möglich. Obwohl er um Objektivierung bemüht ist, bei Goethe und Sophokles Modelle bewundert, die Typisierung ermöglichen, vermag er nicht direkt an dieses Erbe mit geschichtsphilosophischem Anspruch anzuknüpfen (vgl. Th. 4). Die zitierte Wirkungsvorstellung (Erhebung durch Unterwerfung) muß offenbar aus grundlegend veränderten Bedingungen verstanden werden, und es stellt sich die Frage, in welchem Sinne Fontane ein bürgerlicher Realist ist. (Fragen der literarischen Methode besitzen ja immer den Doppelaspekt, daß in den Leitlinien des individuellen Schaffensprozesses die historisch-konkreten und in diesem Sinne allgemeinen Möglichkeiten und Grenzen für Weltaneignung ihren Ausdruck finden.)
Die theoretische Absage an jede Art voluntaristischer Perspektivegestaltung, selbst bei den von ihm bewunderten Meistern der französischen, skandinavischen und russischen Literatur, dürfte sich aus verschiedenen Quellen herleiten.
Neben Gründen, die in Herkunft und Erziehung liegen, stellen die Revolutionserfahrungen und, eng damit verbunden, die ersten England-Jahre entscheidende Grunderlebnisse dar. Das spiegelt sich nicht nur in der lebenslangen Liebe des Dichters zu diesem Lande, die noch dem „Stechlin“ ihren Stempel aufdrückt, das hat ganz grundlegend Fontanes Verhältnis zur deutschen Gegenwart nach 1849 und dadurch zur geschichtlichen Vergangenheit beeinflußt. Im Kern handelt es sich um Fontanes Verhältnis zur Bourgeoisie als dem Träger der geschichtlich neuen Entwicklungen. „Ein Sommer in London ‘ enthält nicht nur im Kapitel „Parallelen“ die bereits zitierten Verzeichnungen (s. Abschn. I), noch stärker, nämlich durchgehend prägt sich Fontanes Sorge über den „Kult um das goldene Kalb“ in vielen Kapiteln aus — ein Bild, das ihm zum Symbol für politische, religiöse und menschliche Fehlentwicklungen wurde. Diese damals eher vor-bewußten, keineswegs grundlegend historischen Einsichten bargen aber die Potenz zur Vertiefung und zum Neuansatz, als auch in Preußen-Deutschland die Phrasenhaftigkeit des gesamten öffentlichen Lebens offenkundig wurde und Züge der einst (50er Jahre) als englisch empfundenen Entwicklung sich als Züge der Epoche des vollentwickelten Kapitalismus auch in Deutschland herausstellten (70er Jahre). Fontanes vorrangig poetische Analyse verdichtete sich um 1880 zu einer Zeitalteranalyse, in der die für alle europäischen Literaturen bezeichnende Zerstörung bürgerlicher Illusionen mit einem spezifisch deutschen Versuch der Entbürgerlichung der Zukunft verschmolzen werden konnten.» 1
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