Noch ehe Fontane in den 90er Jahren Einsichten in die Kunstfeindlichkeit des Marktes formuliert (vgl. Th. 9), werden in den theoretischen Schriften Sätze unüberhörbar, die die Verteidigung des Individuums gegen die zerstörerische Macht der Verhältnisse fordern (vgl. Th. 6). Nicht zufällig geschieht das Mitte der 80er Jahre (was oft zu einseitig aus des Dichters Werdegang erklärt wird). Es sind dies zugleich jene Jahre in der Geschichte Westeuropas, in denen der Kapitalismus der freien Konkurrenz immer mehr monopolistische Züge annimmt und in denen sich der Übergang zum Imperialismus vollzieht.
Fontane reflektiert diese Entwicklung nicht in soziologischen Begriffen, ja selbst der Bourgeois steht ihm mehr für eine Gesinnung, für „Geldsackgesinnung“. Dennoch wird sein Schaffen von dieser Entwicklung geprägt, und allein die Fülle der Frauenschicksale läßt sich unschwer als eine Chronik entfremdeter Beziehungen lesen. In diesem Punkt lotet der Dichter tiefer als mancher Zeitgenosse, dessen Gesellschaftskritik schärfere Gegenwartskonturen aufweist (man denke an Spielhagen).
Begreift man mit Marx unter „Entfremdung“ einen historischen Prozeß, weit über das 19. Jahrhundert hinausgreifend, aber in der zweiten Jahrhunderthälfte neuartig kulminierend — die grundlegende Trennung der Werte schaffenden Menschen (Produzenten) vom Produkt ihrer Arbeit, die unter den Bedingungen der Ausbeutergesellschaft doppelt gegebene „Entäußerung“ ihres Vermögens zum Menschen — nicht zuletzt die Entfremdung vom Mitmenschen als übergreifenden Zusammenhang, dann treten Haltung und Leistung Theodor Fontanes deutlich hervor. 21
Angesichts menschenfeindlicher Bedingungen für Kunst und Literatur, trotz hohler Ehrkonvention des Adels und niedrigster Motive auf seiten der Bourgeoisie tritt der Dichter für ein Prinzip der Menschengestaltung ein. das die Figuren nicht allein verantwortlich macht, ohne sie aus ihrer mitmenschlichen Verantwortung zu entlassen. Mit dieser Methode durchdringt und entstofflicht er seine Geschichten von Menschen, damit zugleich Freiräume für geschichtliche Bezüge eröffnend. Freilich, Fontanes allmählich gewachsene Sicht verlangt auch von uns heute einen wachsenden Sinn für Geschichte. Nicht Deckungsgleichheit ist dabei zu erwarten, wohl aber die Entdeckung, daß seine theoretischen wie kunstpraktischen Bemühungen über seine Zeit hinausgreifen.
Anmerkungen
1 Zitiert wird nach „Schriften zur Literatur“, hrg. v. H. H. Reuter, Aufbau Verlag Berlin 1960 (“ SzL): „Aufzeichnungen zur Literatur, Ungedrucktes und Unbekanntes“, hrg. v. H. H. Reuter, Aufbau Verlag Berlin und Weimar <= AzL); „Der Junge Fontane, Dichtung, Briefe, Publizistik“, Aufbau Verlag Berlin und Weimar 1969, hrg. v. H. Richter (= DJF).
2 Charlotte Jolles’ Bedenken, Fontane sei „so untheoretisch (und so gegen Prinzipien!)“ gewesen, möchte diese Studie relativieren und fragen, ob der (keineswegs totale) Verzicht auf theoretisches Denken nicht selbst ein historisches Indiz bildet, vgl. ihre Anmerkungen zur Arbeit von Neumeister-Tarom in: Germanistik (Niemeyer), 19. Jg. 1978/2, S. 460f.
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