Johann Friedrich Ruthe wurde am 16. April 1788 in Egenstedt bei Hildesheim geboren, wo sein Vater damals in einem landwirtschaftlichen Beruf - offenbar als Gutsverwalter — tätig war. Da ihm noch viele Geschwister nachfolgten, konnten seine Eltern ihn nur wenig beaufsichtigen, und so wuchs der lebhafte und aufgeweckte Knabe „in halber Wildheit“ auf, streifte viel in der freien Natur umher, nicht ohne dabei manches mehr oder minder gefährliche Abenteuer zu überstehen. Seine Schulausbildung war zunächst dürftig. In der Dorfschule hatte er es schon nach anderthalb Jahren so weit gebracht, daß ihm der Schulmeister nichts mehr beibringen konnte, und auch ein anschließender Unterricht bei dem Ortspfarrer war wenig ergiebig. Nachdem sein Vater beschlossen hatte, daß er Tierarzt werden sollte, brachte ihm ein weiterer Pastor die Grundzüge der lateinischen Sprache bei, sodaß er anschließend das Collegium Josephinum in Hildesheim, ein katholisches Gymnasium, besuchen konnte. Da seine Eltern außerhalb der Stadt lebten, erhielt der junge Ruthe zunächst einen Platz im Johannishaus, einem Schülerintemat, später bezog er ein Privatquartier. Eingehend berichtet er über das damalige Leben in Schule und Internat, kritisch beleuchtet er die damaligen Unterrichts- und Erziehungsmethoden, eine wahre Fundgrube für einen Pädagogik-Historiker! Dem Katholizismus, dem er von Geburt an zugehörte, stand Ruthe zunehmend kritisch gegenüber, sodaß er später in Berlin zum Protestantismus übertrat.
Während Ruthes Schulzeit gelangte das Fürstbistum Hildesheim 1802 an Preußen. Aber die Preußen stießen durch ihre straffen Maßnahmen und ihr Verhalten bei den Einwohnern des Fürstbistums auf Abneigung, ja auf Haß, und so war die Freude allgemein, „daß die lästigen und unausstehlichen Preußen“ im Oktober 1806 „tüchtig geschlagen, in aller Eile Reißaus nehmen mußten.“ Freilich schlug die Stimmung der Volksmassen bald wieder um, als sie erkannten, daß sie „aus preußischen Unterthanen jammervolle Franzosenknechte“ geworden waren, und sie hätten „lieber die Preußen wieder gesehn, als die Franzosen“.
Wenn sich die Gymnasiasten auch um diese Wandlungen zunächst wenig bekümmerten, so bekamen sie den Ernst der Lage bald in voller Schärfe zu spüren. Napoleon hatte das Hildesheimer Gebiet dem neugeschaffenen Königreich Westfalen zugeschlagen, das von seinem Bruder Jeröme in Kassel regiert wurde. Die Zeit, in der im Fürstbistum niemand Soldat zu werden brauchte, war damit endgültig vorbei, denn Jeröme brauchte Truppen, um seinen kaiserlichen Bruder bei dessen weiteren Kriegszügen unterstützen zu können. Im April 1809 wurde auch Ruthe, der gerade seine Gymnasialzeit beendet hatte und eine Universität beziehen wollte, zu den westfälischen Fahnen gerufen. Noch hoffte er, dem ungewissen Soldatenschicksal entgehen zu können, denn über die Einberufung der Wehrpflichtigen entschied das Los. Wer von den etwa 60 jungen Männern, die zusammen mit Ruthe auf das Hildesheimer Rathaus beschieden worden waren, aus einer Urne die Nummern 1—25 zog, mußte sogleich zum Regiment marschieren, die Nummern 26—50 gehörten zum 2. Aufgebot und die übrigen waren einstweilen freigestellt. „Unter Furcht und Hoffnung“ trat Ruthe an
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