Schriften aus der langen Zeit seiner Unentschiedenheit, verdrängt zugunsten wohlwollender, ja liebevoller Darstellungen des „patriarchalischen“ Königtums Friedrich Wilhelms III. ß
Nebenbei sei daran erinnert, daß die nach friderizianische Monarchie, besonders seit 1815, im Vergleich zum aufgeklärten Absolutismus Friedrichs des Großen und zu seinem Prinzip der Rechtsgleichheit als eine ausgesprochene Regressionserscheinung zu werten ist. 7
II. 1789 und 1848
1848 bricht die Pariser Februarrevolution aus, die, nach 33 Jahren der Reaktion, im März auf Preußen übergreift und in Berlin sofort ganz offiziell als französischer Importartikel deklariert wird. Der Berliner Massenaufstand sei, nach Friedrich Wilhelms IV. Worten, ein coup monte (hinterhältiger Anschlag), angestiftet durch „eine Rotte von Bösewichtern, meist aus Fremden bestehend“. 8 Nach einer anderen Quelle hätten „französische Emissäre den Barrikadenbau geleitet; nur dadurch sei es möglich geworden, daß das in der Revolution so völlig unerfahrene Volk von Berlin das Beispiel von Paris mit solchem Erfolge nachgeahmt habe.“ 9 Wie schwer das Gewicht der Geschichte, d. h. in diesem Fall die vermeintliche Wiederauferstehung der großen Revolution von 1789 auf den Zeugen der Ereignisse von 1848 lastete, zeigt sich am deutlichsten in den Wahnvorstellungen des Königs und seiner Umgebung. Grundlegend für die Reaktion Friedrich Wilhelms IV. auf die Vorgänge in Berlin seit dem 18. März war die Zwangsidee, er und die Seinen würden das Schicksal Ludwigs XVI. erleiden müssen. Analogien mit dem Paris der Jahre 1790—93 drängten sich ihm auf. Schon am 15. März 1848, als in Berlin der Aufstand noch gar nicht ausgebrochen war, weist er das Ansinnen, sich selbst an die Spitze einer Volksbewegung zu stellen, mit den Worten zurück: „Ich soll wohl die Jakobinermütze aufsetzen“, eine Anspielung auf die Szene, in der Ludwig XVI. von den ins Tuilerienschloß eingedrungenen Volksmassen die rote Mütze aufgezwungen wurde. Dieser Tuileriensturm, der am 20. Juni 1792 stattgefunden, dann zur Einkerkerung und schließlich zür Hinrichtung des französischen Königspaares geführt hatte, könnte sich, so befürchtete es Friedrich Wilhelm IV., 1848 im Berliner Schloß wiederholen.
Am 19. März berichtete ein Augenzeuge, der Kölner Franz Raveaux, von seinem Empfang im Berliner Schloß: „Alle Anwesenden waren beständig in Erwartung der Dinge, die noch kommen würden (...), manchem hatte in jenem Augenblicke das Schicksal Ludwigs XVI. vorgeschwebt.“ 10 So ist es nicht verwunderlich, daß dem König der Gedanke an Flucht sich anbot. Auch hier tauchte eine historische Erinnerung auf, nämlich der Fluchtversuch der königlichen Familie Frankreichs, die am 22. Juni 1791 in Varennes zur Umkehr zurückgeführt worden war. Auch Friedrich Wilhelm IV. hatte seine Flucht vorbereitet. Ein Wagen stand Unter den Linden bereit; doch der Plan wurde aufgegeben, denn es stand zu befürchten, daß bei Abwesenheit des Königs die Berliner die Reupblik proklamieren würden.
In der blühenden Phantasie des Hofes gab es also Analogien zwischen dem Paris des Jahres 1789 und dem Berlin des Jahres 1848. Daß eine Pariser