gemacht hat, eine Gestalt, in der eine starke und reine Menschlichkeit verkörpert wird.
So ist es schließlich wieder diese Anekdote, die im Stechlin die Waltham- Abtei den Sieg über eine andere historische Stätte, Traitors Gate im Tower von London, davontragen läßt. Im 25. Kapitel, nach der Rückkehr Woldemars aus England, wird das im 22. Kapitel angeschnittene Thema der Sehenswürdigkeiten Londons wieder aufgenommen. Dem Traitor’s Gate, Melusines ,Domäne“ in ihrer Englandzeit, wenn sie Besuch herumzuführen hatte, wird Waltham-Abbey gegenübergestellt, an der sich Woldemars Phantasie entzündet. Traitor’s Gate, dem Denkmal alter Grausamkeiten — („Liegt, Gott sei Dank, weit zurück“. „Ja, weit zurück. Aber es kann wiederkommen. Und gerade das war es, was immer, wenn ich da so stand, den größten Eindruck auf mich machte. Diese Möglichkeit, daß es wiederkehre“, sagt die weitsichtige Melusine) — diesem Denkmal steht Waltham-Abbey gegenüber, ein Sinnbild wahrer menschlicher Gefühle von Treue und Liebe, die im Abt und den Mönchen der Abtei, vor allem aber in Edith Schwanenhals verkörpert sind. Melusine hat Waltham-Abbey nicht gesehen, aber auch sie kennt das große Bild von Horace Vernet, das neben Heine auch einen so starken Eindruck auf Fontane gemacht hat und das den Moment darstellt, wo die schöne Col de Cygne zwischen den Toten umherirrt. Woldemar erscheint uns plötzlich in einem neuen Licht, und unauffällig führt uns die Geschichte von Edith Schwanenhals über die beiden feindlichen Königinnen Elisabeth und Maria Stuart zu einer anderen Gestalt, die sich Armgard zum Vorbild wählt: Elisabeth von Thüringen. Die Beziehung von Elisabeth von Thüringen zu Edith Schwanenhals ist nur zu deutlich, und daß sich Woldemar für Armgard entscheidet, wird einsichtig. Noch einmal erfüllt die von Fontane so geliebte Anekdote eine künstlerische Funktion in seinem letzten Werk.
Ich kannte Waltham Abbey schon, aber es zog mich jetzt wieder dahin, um Joachim Schobeß diese Stätte vor Augen führen zu können, wie sie dem heutigen Besucher erscheint. Von den Hügeln Hamsteads, in deren Nähe auch Fontane damals wohnte, fuhr ich, 125 Jahre nach ihm, dorthin. Die Ost-Linie der Eisenbahn führt noch an Waltham-Abbey vorbei, die Dampfmaschine ist längst elektrifiziert worden. Aber ohne Auto ist der Ort etwas umständlich zu erreichen. Die Metropole zieht sich jetzt bis dicht dorthin, überall Industrie, wohin man sieht. Und plötzlich aus der grauen industriellen Landschaft heraustretend, sieht man wie eine Oase das kleine noch ländlich anmutende Städtchen Waltham-Abbey in der Grafschaft Essex vor sich, umgeben von leuchtend grünen Feldern und Wiesen. Die Abteikirche mit ihrem schönen Kirchhof und seinen alten Grabsteinen steht inmitten von Wiesenland, das zu einer gepflegten Anlage mit Picknickplätzen gestaltet ist, zu der auch ein herrlicher Rosengarten gehört. Überall sieht man Spuren des wiedererwachten archäologischen Interesses. Die Kirche ist bald nach Fontanes Besuch, von 1860 bis in die siebziger Jahre, gründlich restauriert worden, so daß Fontanes Schilderung noch den Eindruck des früheren Zustands gibt. Die mächtigen Säulen mit den sonderbar geformten Kapitalen machen einen gewaltigen Eindruck. Es ist
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