einen „großen Mann“ genannt hatte, in Wirklichkeit aber wegen des anklagenden Charakters dieser „Jägerskizzen“, zunächst in Petersburg vier Wochen in Haft genommen und dann auf sein Landgut Spasskoe verwiesen wurde, verzögerte sich die Auslieferung des Buches bis zum August 1852, als Viedert schon einige Monate in Deutschland weilte. Da er von den Umständen nichts wissen konnte, beklagte er sich bitter über das vermeintliche Vergessen des Versprechens. 9
Turgenev wußte natürlich, daß Viedert einzelne seiner Skizzen bereits nach der Erstpublikation in der Zeitschrift „Sovremennik“ (Der Zeitgenosse) ins Deutsche übersetzt hatte. Doch war nicht die Übersetzertätigkeit der eigentliche Grund für Viederts erste Deutschlandreise im Frühjahr 1852, sondern die Suche nach der im frühen Kindesalter verlorenen Mutter. In Berlin angekommen, erfuhr er von ihrem Tod, lernte aber, nachdem er sich nach ihrem letzten Aufenthaltsort München begeben hatte, dort eine Schwester kennen, die von Friedrich Schenk als Pflegetochter angenommen worden war. 10 Da der Aufenthalt in Bayern Viedert nicht die zum Broterwerb notwendigen Kontakte verschaffte, verließ er die Schwester und suchte Ende Oktober 1852 das sächsische Pressezentrum Leipzig auf. Anfänglich zwischen Leipzig und Dresden hin- und herpendelnd, ließ er sich von Mitte Februar 1853 an für neun Monate in Dresden nieder, und traf in der dortigen „russischen Kolonie“ viele Landsleute, darunter auch Fontanes alten Freund Wilhelm Wolfsohn. Dieser war von Dessau, wo er Ende 1851 als in Rußland geborener Jude eine deutsche Christin geheiratet und die Anhalt-Dessauische Staatsbürgerschaft angenommen hatte, Ende Mai 1852 für immer nach Dresden gezogen. Ihm schloß Viedert sich an und fand Unterstützung. Nun wurden seine Artikel und Übersetzungen in sächsischen Presseorganen aufgenommen, so u. a. in der Leipziger „Illustrierten Zeitung“, in Prutz’ Zeitschrift „Deutsches Museum“, in Webers „Novellenzeitung“, Diezmanns „Modenzeitung“ und der 10. Auflage von Brockhaus’ Konversationslexikon. Für Viederts Vertrautheit mit Wolfsohn zeugt sein Bericht über dessen Dramenvorhaben in einer Korrespondenz für die „Moskovskie vedomosti“ (Moskauer Nachrichten) vom 16. März 1853, in der er auch andere damals in Dresden anwesende Schriftsteller wie Friedrich Bodenstedt und Otto Ludwig mit ihrem Schaffen vorstellte. 11
Dieser erste Aufenthalt Viederts in Preußen, Bayern und Sachsen ist als eine seiner Jugend entsprechende unklare Suche nach Familienanschluß und Existenzgründung zu verstehen. Letztere war für den Deutsch-Russen unter den ohnehin schwierigen Nachmärz-Bedingungen besonders mühevoll. Von den in Deutschland Vorgefundenen Zuständen enttäuscht fuhr Viedert im Oktober 1853 — anderthalb Jahre nach seiner Ankunft — von Dresden nach Berlin, um dann über Stettin per Schiff nach Rußland zurückzukehren. Nun schwebte ihm vor, es seinem Vater gleichzutun und dort nach Annahme der russischen Staatsbürgerschaft als Lehrer der deutschen Sprache sein Brot zu verdienen. Von Wolfsohn mit dessen neuestem Buch und Empfehlungen versehen, begab sich Viedert am 14. Oktober 1853 in Berlin zu Varnhagen von Ense, der seit Ende der dreißiger Jahre bei fortschrittlichen russischen Studenten der Berliner Universität, spä-
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