29 Das Haus Nr. 11 in Alexandrowka, in dem Viedert 1854 wohnte, steht noch heute; es trägt den Namen seiner damaligen wie heutigen Bewohner in kyrillischen und lateinischen Lettern an der Stirnseite. Es ist daher sicherlich von Interesse, Vie- derts Schilderung der Kolonie, die er ein Jahr später, im November 1855, den russischen Lesern der „Feterburgskie vedomosti“ gab, in deutscher Übersetzung bekannt zu machen: „Zum Schluß erlauben Sie mir ein paar Worte über die .russische Kolonie*. Unsere Leser haben gewiß oft von ihr gehört, aber kaum Gelegenheit gehabt, sie näher kennenzulernen. Manche wissen nur von ihrer Existenz, aber keine Einzelheiten über sie. Jedenfalls wenden sich russische Reisende, die sich in Berlin aufhalten, oftmals mit der Frage an mich: Was ist das für eine russische Kolonie? Wo ist sie und was bedeutet sie? Hier meine knappe Antwort: Die russische Kolonie, das Dorf Alexandrovskoe liegt in der Nähe von Potsdam, das bekanntlich die zweite preußische Residenz darstellt. Potsdam liegt 4 Meilen von Berlin entfernt und ist mit der Eisenbahn in 40 Minuten zu erreichen.
Das Dorf Alexandrovskoe wurde 1827 von dem verstorbenen König Friedrich Wilhelm III. zum Andenken an die Freundschaft zwischen ihm und dem in Gott dahingegangenen Zaren Aleksandr I. gegründet.
Das Dorf besteht aus 14 Häusern, sechs mit 2 Etagen und acht mit einer Etage. Von außen haben diese Häuser wirklich eine rein russische Architektur, aber die Inneneinrichtung hat nichts nationalrussisches. Um die Häuser sind von außen in zwei Teile zersägte Balken gelegt, während das Haus selbst aus Ziegelsteinen gebaut ist. Die Kolonie wurde für russische Soldaten gegründet, die mit Einverständnis des Zaren Aleksandr I. nach 1812 in Preußen geblieben waren. Die ursprüngliche Anzahl dieser sich ansiedelnden Soldaten war, wenn ich nicht irre, zwölf.
Die vom König angeordneten Rechte und Pflichten in bezug auf den beweglichen und unbeweglichen Besitz wie auch das Erbrecht sind in der Verfügung des Königs über die Eröffnung der Kolonie vom 31. März 1827 festgelegt. Dort heißt es unter anderm, daß Gärten und Häuser mit allen zum Haushalt gehörenden Gegenständen als Besitz auf Lebenszeit übergeben werden und nach dem Tode nach dem Erstgeborenenrecht an die Erben männlichen Geschlechts der jüngeren Generation übergehen. Gibt es keine Erben männlichen Geschlechts, so fällt alles an den Staatshaushalt. Kinderlose Witwen können sich nur drei Monate in den Häusern auf halten, wenn jedoch kleine Kinder da sind — bis zu deren Volljährigkeit.
Im Gründungsjahr der Kolonie wurde an der Nordseite auch der Grundstein für eine orthodoxe Kirche auf den Namen Aleksandr Nevskij gelegt. 1828 wurde der Bau beendet und im Jahre 1829 durch den damaligen Oberpriester Cudovskij eingeweiht. Sie ist aus Stein mit fünf Kuppeln und hat nur einen Altar. Die Kirche steht auf einer Erhöhung, die gleichsam über Potsdam hinausragt; durch ihre Architektur unterscheidet sie sich deutlich von den einheimischen Kirchen.
Die Kolonie wird aus der Schatulle des Königs unterstützt, aber Quelle für den Unterhalt der Kolonisten sind die Gärten und Vermietung von Quartieren, besonders im Sommer. Die Häuser mit zwei Etagen werden für 130 Thaler, die mit. einer Etage für 60 Thaler im Jahr vermietet; die Garten sind reich an Kirschen- und Apfelbäumen, an Beeren und Gemüse. Sie können in guten Jahren einem fleißigen Hauswirt 100 bis 200 Thaler Gewinn bringen.
Die Lage von Alexandrowka ist außerordentlich schön und erinnert mit den breiten Tälern, den Hügeln und Hainen an das vor Moskau gelegene Ostankino. Überhaupt zeigt das Äußere der Kolonie viel Russisches; in der Einfahrt zur Kolonie ist eine Säule mit der russischen Inschrift Dorf Aleksandrovskoe aufgestellt, auf der Vorderseite jedes Hauses steht ebenfalls auf russisch der Name seines Besitzers: Ivan Jablokov, Nikolaj Siäkov, Grigorij Vavilov usw. Aber die freudige Erregtheit des russischen Reisenden erlischt augenblicklich, wenn er in eines der Häuser eintritt. Noch unter dem Zauber der russischen Inschrift fragt er beim Eintritt auf den Hof den ersten, der ihm entgegenkommt, auf russisch: ,Ist der Hausherr da?* und erhält auf deutsch die Antwort: ,Was sagen Sie?* Wenn eine solche Begrüßung Sie noch nicht völlig verwirrt hat, und Sie auf die deutsch vorgetragene Frage: ,Ist Herr Schischkof zu Hause* die Antwort:
,Jawohl, zu dienen, ich bin selbst Nikolai Schischkof* erhalten haben, sind Sie endgültig entzaubert. Es ist nämlich so, daß von den ersten Kolonisten nur noch zwei Alte am Leben sind: Sergeev und Alekseev. Alle Kinder der Siedler haben nichts Russisches mehr an sich, sie verstehen nicht nur kein Wort Russisch, sondern sind in jeder Beziehung Deutsche geworden, was sehr natürlich ist, weil ihre Mütter Einheimische waren. Auch Sergeev und Alekseev sind mit deutschen Frauen verheiratet. Der erste, der irgendwann einmal wahrscheinlich ein tapferer Soldat war, steht jetzt, wie es heißt, ganz unter dem Pantoffel seiner Frau, einer zänkische nund geizigen Alten. Kinder hat er keine. Alekseev hat einen Sohn, -- für ihn ist die russische Sprache wie auch für die übrige junge Generation - ein Rätsel“ (Peterburskie vedomosti, 1855, Nr. 242 vom 4. XI. alten Stils, S. 1281) - (Übers, d. Verf.).
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