Heft 
(1983) 35
Seite
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Bourgeois-Porträtsy das weit unter dem geistigen Niveau Van der Straa- tens und Treibeis bleibt.

Noch analytischer verfährt der Erzähler mit der Möhringschen Wohnung, deren merkwürdige Gemischtheit den geistigen, kulturellen und sozialen Status der Bewohner trifft. Hierauf weisen die Eßgewohnheiten der Möh- rings, mehr noch die unverblümte Direktheit, in der die ewig weimernde Mutter und Thilde miteinander sprechen. Stets werden die Dinge beim Namen genannt, gibt sich das elementare Interesse unverbrämt zu er­kennen. Direktheit kennzeichnet über weite Strecken auch die Dialoge mit Hugo. Das Unverblümte weicht erst unter den sozial gesicherten Lebens­bedingungen in Woldenstein einer gewissen Rücksicht, bisweilen sogar einem Anflug von Feinfühligkeit und Humor. Fast nie aber wird die Ge­sprächskultur erreicht, die für die vorangegangenenPoggenpuhls weit­hin kennzeichned ist. Vor allem in der ersten Hälfte des Romans erscheint Thilde in einer hart komischen Widersprüchlichkeit, die keinen Raum für liebenswürdiges Erscheinen und Darstellen läßt. DiePoggenpuhls kön­nen, wenn man vom älteren Bruder absieht, menschlich liebenswürdiger erscheinen, obgleich sie gesellschaftlich keine Perspektive mehr haben. Immerhin wahren sie eine sehr bestimmte Gesinnung, durch die sie sich wohltuend von den Bourgeois-Figuren abheben. Mathilde und auch Hugo gebricht es entschieden an Gesinnung.

Die Poggenpuhls undMathilde Möhring lassen erkennen, daß sich der greise Fontane heiter-überlegen und kritisch-analytisch von drei Grund­pfeilern des Hergebrachten und des Bestehenden abgelöst hat, nämlich vom Adel, sofern er als eine sozial funktionslos gewordene Klasse aufzu­fassen ist, von der Bourgeoisie und von jenen Elementen des Kleinbürger­tums, die in ihrem Milieu befangen sind und nach 1848 immer mehr auf­gehört haben, sich als Subjekte der gesellschaftlichen und politischen Ent­wicklung zu fühlen.Der Stechlin wird zeigen, daß die ideologische Ab­lösung vom Hergebrachten und Bestehenden durch das Vertrauen auf das Werdende bestimmt ist. Hieraus entsteht ein überlegener Humor, der die Widersprüche im gesellschaftlichen und persönlichen Leben scharf fixiert und in der von Skepsis keineswegs freien Projizierung auf das Werdende relativiert. Das bedeutet, wie sich besonders anMathilde Möhring zeigt, nicht poetische Verklärung des Wirklichen, sondern es erwächst daraus die subtiler gewordene Fähigkeit, in der ästhetischen Erscheinung und durch die ästhetische Erscheinung hindurch das menschlich Bedeutsame und das gesellschaftlich Wesentliche zu erfassen. DerLikedeeler-Plan ist neben den weithin bekannten Briefäußerungen ein Indiz dafür, daß dieser künstlerische Gewinn von einem gesteigerten Interesse amrevolu­tionären Diskurs begleitet ist.Der Stechlin ist das bedeutendste Doku­ment dieser erstaunlichen Altersentwicklung. In ihm dominieren Struk­turen und Techniken, die die in denPoggenpuhls und inMathilde Möhring errungenen ästhetischen und ideologischen Positionen voraus­setzen und allerdings auch übertreffen.

Anmerkungen

Die Seitenzahlen beziehen sich aut: Th. Fontane, Romane und Erzählungen. Aulbau- Verlag, Berlin 1969, Bd. VII.

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