Bourgeois-Porträtsy das weit unter dem geistigen Niveau Van der Straa- tens und Treibeis bleibt.
Noch analytischer verfährt der Erzähler mit der Möhringschen Wohnung, deren merkwürdige Gemischtheit den geistigen, kulturellen und sozialen Status der Bewohner trifft. Hierauf weisen die Eßgewohnheiten der Möh- rings, mehr noch die unverblümte Direktheit, in der die ewig weimernde Mutter und Thilde miteinander sprechen. Stets werden die Dinge beim Namen genannt, gibt sich das elementare Interesse unverbrämt zu erkennen. Direktheit kennzeichnet über weite Strecken auch die Dialoge mit Hugo. Das Unverblümte weicht erst unter den sozial gesicherten Lebensbedingungen in Woldenstein einer gewissen Rücksicht, bisweilen sogar einem Anflug von Feinfühligkeit und Humor. Fast nie aber wird die Gesprächskultur erreicht, die für die vorangegangenen „Poggenpuhls“ weithin kennzeichned ist. Vor allem in der ersten Hälfte des Romans erscheint Thilde in einer hart komischen Widersprüchlichkeit, die keinen Raum für liebenswürdiges Erscheinen und Darstellen läßt. Die „Poggenpuhls“ können, wenn man vom älteren Bruder absieht, menschlich liebenswürdiger erscheinen, obgleich sie gesellschaftlich keine Perspektive mehr haben. Immerhin wahren sie eine sehr bestimmte Gesinnung, durch die sie sich wohltuend von den Bourgeois-Figuren abheben. Mathilde und auch Hugo gebricht es entschieden an Gesinnung.
„Die Poggenpuhls“ und „Mathilde Möhring“ lassen erkennen, daß sich der greise Fontane heiter-überlegen und kritisch-analytisch von drei Grundpfeilern des Hergebrachten und des Bestehenden abgelöst hat, nämlich vom Adel, sofern er als eine sozial funktionslos gewordene Klasse aufzufassen ist, von der Bourgeoisie und von jenen Elementen des Kleinbürgertums, die in ihrem Milieu befangen sind und nach 1848 immer mehr aufgehört haben, sich als Subjekte der gesellschaftlichen und politischen Entwicklung zu fühlen. „Der Stechlin“ wird zeigen, daß die ideologische Ablösung vom Hergebrachten und Bestehenden durch das Vertrauen auf das Werdende bestimmt ist. Hieraus entsteht ein überlegener Humor, der die Widersprüche im gesellschaftlichen und persönlichen Leben scharf fixiert und in der von Skepsis keineswegs freien Projizierung auf das Werdende relativiert. Das bedeutet, wie sich besonders an „Mathilde Möhring“ zeigt, nicht poetische Verklärung des Wirklichen, sondern es erwächst daraus die subtiler gewordene Fähigkeit, in der ästhetischen Erscheinung und durch die ästhetische Erscheinung hindurch das menschlich Bedeutsame und das gesellschaftlich Wesentliche zu erfassen. Der „Likedeeler“-Plan ist neben den weithin bekannten Briefäußerungen ein Indiz dafür, daß dieser künstlerische Gewinn von einem gesteigerten Interesse am „revolutionären Diskurs“ begleitet ist. „Der Stechlin“ ist das bedeutendste Dokument dieser erstaunlichen Altersentwicklung. In ihm dominieren Strukturen und Techniken, die die in den „Poggenpuhls“ und in „Mathilde Möhring“ errungenen ästhetischen und ideologischen Positionen voraussetzen und allerdings auch übertreffen.
Anmerkungen
Die Seitenzahlen beziehen sich aut: Th. Fontane, Romane und Erzählungen. Aulbau- Verlag, Berlin 1969, Bd. VII.
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