lyrikgeschichtlicher Betrachtung. Schon das Thema des Geldes versteht sich im Licht der Tradition doch schwerlich als „lyrisches“ Thema. Und wo uns Fontanes Lyrik mit vielfältigen Zeitbezügen konfrontiert, sind wir an zeitgenössischen Gedichten von Geibel, Heyse oder selbst C. F. Meyer — bei allen Unterschieden des Ranges wie der Äußerungsweise — doch eher eine Zeitferne gewohnt, die sich allenfalls auf Umwegen zur geschichtlichen Situation in Beziehung setzen läßt. Wo Fontanes Gedichte die Nähe zum Alltag suchen, begegnet man hier eher der Tendenz zum Erlesenen und zur alltagsüberhobenen Entrückung. Dem Humor auch in der Lyrik Fontanes stehen sonst in der Lyrik der Zeit doch eher Pathos und stilistische Höhenlagen entgegen, mit denen sich Humor nicht recht vertrüge. Doch gerade das — im lyrikgeschichtlichen Kontext betrachtet — eher Befremdliche macht ganz wesentlich das Eigene und den Reiz des lyrischen Stils Fontanes aus, der im folgenden in den genannten Aspekten näher beschrieben werden soll.
Nicht alle späten Gedichte Fontanes sind so deutlich zeitbezogen und zeitkritisch wie „Arm oder reich“. Oft überwiegt in ihnen die sich selbst zugewandte Reflexion, der Blick auf das eigene Leben. Zuweilen verzichtet der Autor dabei auf die Markierung eines geschichtlichen Kontexts, zuweilen stellt er ihn wie im Vorübergehen her — z. B. als Nennung Bismarcks in „Ja, das möcht’ ich noch erleben“, oder im Motiv des Zeitunglesens, das die Teilhabe an der Zeit signalisiert (so in „Würd’ es mir fehlen, würd’ ich’s vermissen“). Doch bei allen unterschiedlichen Akzentuierungen und Ausprägungen der Gedichte ist gerade eine solche Vermittlung des Persönlichen und eines allgemeineren geschichtlichen Kontexts in besonderer Weise charakteristisch. Zeit wird gesehen aus einer sehr persönlich gefärbten Perspektive, die ganz wesentlich das Farbige der Beobachtungen ausmacht. Aber erst die Zuordnung zu einem geschichtlichen Kontext sichert dem Persönlichen wiederum die geschichtliche Verbindlichkeit. Auch in unserem Gedicht war diese Vermittlung in der Art und Weise zu beobachten, wie autobiographische Erfahrung und allgemeinere zeitgeschichtliche Orientierung aufeinander bezogen werden. Bereits der dialogische Eingang, den auch andere Gedichte Fontanes kennen, übernimmt die Funktion, Ich und Zeitgenossenschaft zueinander in Beziehung zu setzen. In der gesamten Appellstruktur des Gedichts erscheint dieser Bezug modifiziert. Das Personalpronomen in „unsre Adler“ etwa stellt eine selbstverständliche Verbindung zwischen dem Gedicht-Ich und dem zeitgenössischen Leser her. Auch die Konkretisierung des Zeitbezugs kalkuliert seine Mitwirkung ein. Ob die Vergegenwärtigung des Anschauungsmaterials eher anonym von dem Grünkramhändler etc. spricht oder dann namentlich die Reichen der Welt benennt, die freilich auch so in ihrer Austauschbarkeit viel eher für das Typische stehen: der Leser ist gehalten, das eine wie das andere als Abbreviaturen einer allgemeineren Zeitlage aufzunehmen. Von ihr aus erhalten die um das Thema des Geldes gruppierten Verhaltenmuster ihren geschichtlichen Sinn, aber auch das an ihnen ausgetragene Spiel der Wertungen und Umwertungen, das auf eigene Weise den Blick in die weite Welt mit der Orientierung am vertrauten Alltag verbindet.
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