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Deutsche Noman-Bibliothek.
Schon öfter angeboten — dieß eine Wort reichte hin, mich den Abgrund erkennen zu lassen, an dem die Unglückliche stand, vielleicht ohne selbst die Gefahren ihrer Lage zu kennen. Ich nahm die Brieftasche wieder zu mir, ohne mein Eigenthum weiter zu verleugnen.
„Es ist ein Leidwesen, meine Verehrte; das Unglück, sehe ich, macht mißtrauisch und ungerecht, wie Sie selbst bemerkt haben. Freilich habe ich keinen Anspruch aus Ihr Vertrauen, denn ich bin Ihnen fremd. Sie scheuen die Reise nach Novo- mirgorod in meiner Gesellschaft. Wohl, ich mache Ihnen einen andern Vorschlag."
„Bemühen Sie sich nicht, mein Herr. Ich kenne Sie nicht, bitte, gehen Sie."
„Ganz wie Sie befehlen. Doch bevor ich scheide, wissen Sie, daß ich ein alter Freund Ihres Vaters bin seit den Kriegsjahren her."
„Reden Sie die Wahrheit," ries sie, „ich glaube Ihnen, fast hätte ich es denken können! Mein guter Vater, wie schwer habe ich ihn betrübt. Auch diese Schuld lastet auf mir."
„Und auch sie kann gesühnt werden. Wenn Sie einverstanden, will ich ihm heute noch schreiben und Ihre Lage vorstellen. Ich werde ihn bewegen, daß er selbst Sie holt. Kürzer wär's allerdings, Sie nähmen einen Wagen und wir fahren sofort nach Tarussa. Alles Andere wird sich finden."
„Was sollte das nützen, Herr Oberst. Dann wäre ich für meinen Gatten auf immer verloren, und meine Pflicht gebietet mir, bei ihm auszuharren. Von meinem Vater ist nichts zu hoffen."
„Dann kennen Sie das Herz eines Vaters doch nicht. Er sehnt sich vielleicht längst nach Versöhnung und erwartet nur Ihren ersten Schritt. Ich hoffe, sein Herz wird jetzt anders entscheiden. Sie wissen doch unzweifelhaft, daß Ihre Schwester Tatiana sich vermählen wird?"
„Meine Schwester?" und ihre Augen öffneten sich weit. „Welche Märchen erzählen Sie mir da. Davon weiß ich kein Wort."
„Also auch die Briefe von dort werden unterschlagen. Es ist empörend! Sie sehen jetzt, in welchen Händen Sie sind. Aber was Sie Märchen nennen, ist Wahrheit. Ihre Schwester hat sich mit ihrem einstigen Bräutigam versöhnt, mit dem Lieutenant Wadkowski. Sie sehen, ich bin in Ihre Familienverhältnisse so ziemlich eingeweiht. Also entschließen Sie sich. In vierundzwanzig Stunden können wir dort sein."
Frau Nadjeschda stand wie geblendet von diesen Nachrichten, aber sie schüttelte den Kopf wie zu etwas Unglaublichem.
„Wie soll das Alles nur möglich sein. Wie würde ich mich freuen, wenn sich Alles so verhielte. Aber was soll es mir helfen. Ich kann nicht fort. Mein Gott, wie sehne ich mich darnach, meine Schwester wiederznsehen und meinen guten Vater, an seiner Brust möchte ich mich ausweinen, daß er endlich den Fluch von mir nähme. Sein Segen hat uns gefehlt, wie hätten wir Glück haben können. Aber ich wage es nicht, ihm unter die Augen zu treten. Seine Drohung war zu schrecklich. Gerade weil ich sein Liebling, wird er mir nie und nimmermehr vergeben. Mir wäre am besten, wenn ich gestorben mit meiner Annuschka!"
Und die Muthlose brach in einen Weinkrampf aus, der nicht enden wollte.
Ich sah nur zu deutlich, daß dieser Natur ans keine Weise beizukommen war. Das Unglück hatte sie starr und hoffnungslos gemacht. Jeder Lebens- mnth und jedes Vertrauen zu Anderen waren geschwunden.
Inzwischen war es draußen seit den letzten Minuten laut und lebendig geworden. Man hörte Teller und Gläser, Gelächter und Tumult, ans den ich bisher nicht geachtet. Jetzt kamen die Stimmen näher und plötzlich öffnete sich die Thür, die ich vorher nicht mehr verschlossen hatte, weil ich gewiß geworden, daß wir allein waren.
(Fortsetzung folgt.)
Mosaik.
Der kleine Cavour. Sein entschlossenes, witziges Wesen bekundete der künftige energische Staatsmann schon sehr früh. William de la Nive erzählt: Im Jahre 1816 nahmen seine Eltern ihn und seinen Bruder Gustav mit nach Genf und verweilten einige Zeit bei meinein Großvater in Presinge. Wenn ich dieses Umstandes erwähne, so geschieht es, weil mein Vater mir öfters den Eindruck schilderte, den Camillo bei seiner Ankunft in Presinge auf ihn gemacht hatte. Er war ein schlaues Kerlchen, mit einer lebendigen und entschiedenen Physiognomie, voll witziger Einfälle und einem unermüdlichen Uebermuth. Er trug ein rothes Röckchen, das ihm etwas Resolutes und zugleich Komisches verlieh. Bei seiner Ankunft war er sehr aufgeregt und stellte meinem Großvater vor, der Postmeister in Genf, der ihnen entsetzliche Pferde gegeben, müsse abgesetzt werden. „Ich verlange es, daß er abgesetzt wird!" rief er. — „Ja, aber ich kann den Postmeister nicht absetzcn," sagte mein Vater; „nur der Obersyndikus kann das." — „Gut, ich will eine Audienz beim Obersyndikus haben." — „Die sollst Du Morgen haben," erwiederte mein Vater, schrieb an den damaligen Syndikus Herrn Schmidtmeyer, mit dem er befreundet war, und kündigte ihn: an, daß er ihm morgen einen kleinen,
drolligen Kauz schicken werde. In der That, am folgenden Morgen begibt sich das Kind zu Herrn Schmidtmeycr, wird mit aller Ceremonie empfangen, macht ohne irgend welche Verlegenheit drei tiefe Verbeugungen und trägt mit Heller Stimme seine Anklage und sein Gesuch vor. Wie er nach Hause kommt und meinen Großvater gewahr wird, ruft er schon aus der Ferne: „Siehst Du, siehst Du, er wird abgesetzt!" — Damals war er kaum sechs Jahre alt; man sieht, daß er schon frühzeitig gern mit den Leuten aufräumte.
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Amor und die Theologie. Ein katholischer Vater wird gefragt, warum er die Verlobung seiner Tochter mit einem Andersgläubigen zugelassen habe. „So viel ich weiß," antwortete dieser, „hat Amor niemals Theologie studirt."
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Beim Diner. Ein etwas zerstreuter Herr, welcher nicht bemerkt, daß seine Tischnachbarin, eine ältere „junge Dame", eine sehr große Figur hat, äußert unter Anderem: „Die großen Frauen finde ich abscheulich." An dem süßsauren Gesicht der Dame bemerkt er, daß er einen Fauxpas gemacht hat, und fügt rasch hinzu: „Natürlich nur, wenn sie jung sind." Tableau!
Redaktion: vr, Edmund Zoller. — Druck und Verlag der Deutschen VerlagS-Nnstalt (vormals Eduard Hallbergcr) in Stuttgart.