Sherwood von Julius Grosse.
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sein, Sie wollen es nur nicht sagen. Sie trösten mich mit lieben Worten, ich danke Ihnen nochmals."
Und sie stand vor mir wie eine Fürstin, wie ein Seraph. Damals hatte ich die deutliche, unabweisbare Empfindung: Nein, zu diesem problematischen, zweideutigen Menschen paßte diese reine Natur eigentlich nicht. Das war ein zu ungleiches Gespann, und es gab mehr als einen innern Grund für ihn, das Wiedersehen zu scheuen und hinauszuschieben.
Und als wenn sie meine Gedanken erriethe, sagte sie, während sie auf dem Sopha Platz nahm:
„Wann werde ich ihn Wiedersehen? Zwölf Jahre sind eine lange Zeit und neun liegen noch vor mir, wenn er überhaupt sein Ziel erreicht. Aber ich hoffe und bete, daß Gott ihm Kraft verleihe und auch mir, daß wir das Unabwendbare überwinden."
„Warum unabwendbar, beste Frau, trösten Sie sich, es kann noch manche Fügung des Glücks ein- treteu. Daß Sie es wissen: Sherwood macht Karriere, er wird die Epauletten haben vor Ablauf der Zeit. Das Wiedersehen steht Ihnen näher bevor, als Sie ahnen," und als sie mich fragend ansah, „ja, ja, cs ist wirklich so, Sherwood wagt hohes Spiel; ich kann das Nähere nicht mittheilen, aber sein Stern ist im Steigen; er bietet Ihnen die überschwenglichsten Verheißungen." Und so gut ich konnte, wiederholte ich seine übermüthigen Worte.
Frau Nadjeschda hörte mir aufmerksam zu, dann lächelte sie wie ungläubig und seufzte.
„Sie meinen es recht gut, Herr Oberst, aber wie sollte das Alles möglich sein. In unserer Zeit geschehen keine Wunder mehr. Und wenn Alles so glänzend wäre, wie Sie sagen, dann wäre es ja doppelt unrecht von ihm, uns so verkommen zu lassen. Er hätte Ihnen doch etwas mitgeben können, einen Brief, eine Karte, nur das geringste Lebenszeichen zu meiner Beruhigung."
„Das ist auch geschehen, verehrte Frau." Mir kam dabei ein rettender Gedanke. „Allerdings mochte Ihr Gemahl eine Vorstellung von Ihrer Lage haben; nehmen wir an, sein Brief sei verloren gegangen, aber für den Nothfall hat er seine Ersparnisse — wie konnte ich dieß nur vergessen — hier nehmen Sie, dieß schickt er Ihnen." Dabei legte ich eine Brieftasche auf die breite Lehne des Sophas.
Frau Nadjeschda schien meine Worte gar nicht zu beachten, sie hatte sich erhoben und sah mich scheu an. Dann schlich sie zu der Leiche ihres Kindes und ordnete an den Blumen und Schleifen. Endlich küßte sie das Kind und beugte ihren Kopf neben die kalten Wangen desselben, als möchte sie an seiner Stelle sein.
„Mißverstehen Sie mich nicht, meine Liebe, die Lage ist ganz einfach. Sie sind von Ihrem Gatten getrennt, und wer es mit Ihnen gut meint, muß wünschen, Sie wieder mit ihm zu vereinigen. Hier gehen Sie zu Grunde, Ihre Umgebung ist Ihrer unwürdig. Sie müssen fort, Frau Nadjeschda, und so bald als möglich!"
„Fort — fort — von meiner Annuschka — nimmermehr!"
„Und nachher, beste Frau? Man wird Ihnen
das Kind doch nicht lassen können. Noch heute müssen Sie sich von ihm trennen."
Und abermals beugte sie ihr Haupt herab und weinte leise vor sich hin. Solchen Schmerz kann nur das Schweigen ehren, und so ließ ich sie gewähren. Lange stumme Minuten verflossen. Endlich schien sie sich beruhigt zu haben und erhob ihr Haupt, aber ohne sich nach mir umzuweuden.
„Fort hätte ich schon längst gewollt, aber es ging nicht, und nun ist es Zu spät. Ich kann mich. den Leuten nicht ohne Weiteres entziehen, schon weil ^ ich ihnen verpflichtet bin."
Mit diesem Worte war Alles gesagt und erklärt. Diese vornehme, verlassene Frau wurde von inter- essirten Leuten auf mehr oder weniger ehrliche Weise ausgebeutet.
Alles dieß und wie ich sonst ihre Lage beurtheilte, sagte ich nun Frau Nadjeschda mit dürren Worten, aber so eindringlich als möglich. Auch der delikateste Punkt wurde nicht mehr umgangen.
„Wenn Sie Schulden haben bei Jakouschins, so wird das wohl hinreichen, was er Ihnen schickt," und ich deutete auf die Brieftasche. „Und wenn dieß erledigt, so fassen Sie einen muthigen Entschluß. Am besten, Sie reisen mit mir nach Novomirgorod, und in wenig Tagen sind Sie mit Ihrem Gatten vereinigt."
Da traf mich abermals jener stolze, forschende Blick, und ein herbes Lächeln zuckte um ihre Lippen.
„Wenn James im Stande ist, für seine Familie zu sorgen, warum holt er mich nicht selbst?"
„Weil ihn die Dienstpflicht hält und hundert andere Dinge, doch das mag er Ihnen selbst sagen. Wenn es Sie geuirt, bei ihm zu wohnen, so lange er nicht Offizier ist, und in der Kaserne würde das seine Unzukömmlichkeiten haben, so kann ich Sie beim Regimentskommandeur unterbriugeu. Er besitzt eine vortreffliche Frau aus vornehmem Hause, wie Sie selbst. Also fassen Sie einen Entschluß und richten Sie Ihr Haupt empor mit Muth und Vertrauen. Kein Mensch kann es treuer und ehrlicher mit Ihnen meinen!"
Frau Nadjeschda stand jetzt an der Lehne des Sophas und sah offen und treuherzig mir in die Augen.
„Mein Herr Oberst, wenn ich reden darf, wie es mir um das Herz ist: Ihre Sprache, Ihre Güte, Ihre wohlthuende Theilnahme, Alles müßte mich aufrichten, und wie gerne möchte eine Verlassene die dargebotene Freundeshand ergreifen, und dennoch darf ich nicht. Ihre Mittheilungen sind so wunderbar, so widerspruchsvoll; ich muß fürchten, daß Sie mir die ganze Wahrheit doch nicht anvertrauen. Und dann Ihre großmüthige Hülfe — bitte, widersprechen Sie nicht — sie kommt von Ihnen allein. Woher sollte mein armer Mann urplötzlich die Mittel nehmen, und wie oft schon wurde mir dergleichen augebotcn. Ich kenne die böse Welt und ihre Künste wenig. Deßhalb muß ich doppelt vorsichtig sein auf die Gefahr hin, daß ich ungerecht bin oder undankbar erscheine. Bitte, nehmen Sie das zurück," und sie deutete auf die Brieftasche, die noch unberührt auf der Lehne lag, „und dann bitte — verlassen Sie mich für heut."