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Deutsche Noman-Sibliothek.
„Wie meinen Sie denn?" erwiederte sie in leichter Verwirrung, indem sie bei alledem aufmerksam jeder meiner Bewegungen folgte. „Ich setze voraus, Sie wollten mir von meinem Manne Nachricht bringen. Ach Gott, in meiner Lage lernt man an Allem verzweifeln! Lebt er denn noch und wie geht es ihm?"
„Es geht ihm ganz vortrefflich; aber ich denke, er hat Ihnen erst vor einigen Tagen geschrieben, es wird jetzt eine Woche her sein."
„Mir? — seit einem halben Jahre nicht."
„Aber erlauben Sie, das ist undenkbar, oder es muß ein Jrrthum obwalten. Ich weiß von ihm selbst, er hat Ihnen regelmäßig geschrieben, er hat Ihnen auch Wechsel geschickt und besonders seit den letzten Monaten."
„Mir? — nicht einen Kopeken, Herr Oberst. Dann müßte ich ja auch nicht arbeiten für mich und mein armes Kind. Dann lebte auch meine süße Annuschka noch; ich hätte besser für sie sorgen können. Aber Sie müssen mich nicht mißverstehen. Ich mache meinem Manne keinen Vorwurf, er ist ja noch in weit üblerer Lage als wir, sonst hätte er uns nicht im Stich gelassen. Und ich klage auch nicht meinetwegen. Man Hilst sich durch, wie man kann, und wir brauchen so wenig."
Alle diese Andeutungen setzten mich wiederholt in wahrhafte Bestürzung. Das war die Sprache des hülflosen Elends, der äußersten Bedrängniß. Wie stimmte das zu Sherwood's Mitteilungen?
„Verzeihen Sie, meine Verehrteste," sagte ich, „aber ich verstehe das Alles nicht. Wem soll ich denn glauben — Ihnen oder Ihrem Gatten? Erlauben Sie eine Frage. Haben Sie denn nicht von den Ihrigen Hülfe erhalten — von Ihrer Schwester?"
„Im Anfang wohl und so lange wir bei Abra- mowitsch wohnten. Dann hörten die Briefe plötzlich auf und deßhalb mußte ich ja auch ausziehen hieher."
„Wie lange ist das her, wenn ich fragen darf?"
„O, wohl über ein halbes Jahr. Seit Ostern wohne ich hier."
„Seit Ostern? — also gerade seit derselben Zeit, seitdem Sherwood in bessere Verhältnisse gekommen war."
Es schien sonnenklar: hier lag ein Betrug oder eine Täuschung vor. Es kommen sonst wohl Unregelmäßigkeiten vor, auch auf der Post, aber bei Wechseln lohnt sich die Unterschlagung nicht. Ich war starr vor dieser Entdeckung.
„Erlauben Sie noch eine Frage," sagte ich. „Hat Frau Jakouschin Sie niemals Papiere unterschreiben lassen?"
„Niemals — wozu auch. Doch einige Male kam es wohl vor, wenn ich mich recht entsinne. Zum Beispiel Meldezettel und dergleichen. Die Polizei sei sehr streng, sagte sie, und es galt ja nur meine Unterschrift; ich achtete nicht weiter darauf."
„So hat man Sie um Ihre Wechsel betrogen und die Summen unterschlagen!"
„Was denken Sie?" sagte Frau Nadjeschda, „die Jakouschins sind ehrliche Leute, treu wie Gold und behülflich und gefällig in Allem."
„Gut, wenn Sie das glauben. Dann müßte
aber Sherwood mich betrogen haben — aber das ist undenkbar — himmelschreiend wäre es — wenn der Elende —"
„Von wem reden Sie?" unterbrach sie mich, „ich will doch nicht hoffen von meinem Gatten. Was sollten ihm solche Vorspiegelungen wohl helfen. Von ihm selbst hoffte ich nichts und verlangte ich nichts. Ich bitte Sie, woher sollte auch ein armer Soldat noch Erübrigungen machen! Und wenn er Sie wirklich mit falschen Angaben getäuscht hat — mein Gott, auch der Aermste hat seinen Stolz — und bei seiner phantastischen Art. . . Ja, Phantasie besitzt er und Herzensgüte, wie Keiner sonst. Aber was Hilst ihm das. Die Unglücklichen haben keinen Freund und finden keinen Freund, das habe ich nun selbst erfahren. Aber ihm darf ich keinen Vorwurf machen. Durch mich allein ist er in's Elend gekommen, meinethalben hat er Allem entsagt. Seine arme Annuschka hat er auch nun nicht mehr sehen sollen, und wie würde das Kind ihn gefreut haben und getröstet. Es war so klug, so schön, so verständig; alle Tage fragte es nach dem Papa und hat für ihn gebetet, Morgens und Abends. Welche Bilder des Glücks malte ich mir aus für die Zukunft, und nun liegt es da todt und starr — Alles durch meine Schuld, durch mich allein. Das wird er mir nie vergessen, das wird mir ein Vorwurf bleiben zeitlebens."
Ich konnte kein Wort erwiedern. Dieser Ausbruch tiefsten Seelenschmerzes und reinster Selbstverleugnung preßte mir die Brust zusammen.
Da erhob Frau Nadjeschda wieder ihr Haupt und wandte sich zu mir.
„Aber es ist mir, Herr Oberst, als verschwiegen Sie mir etwas. Sagen Sie nur Alles heraus, ich bin auf das Aergste gefaßt. Die Leute reden ja so Böses über ihn, wahrscheinlich auch über mich — und sie haben Recht — seit die kleine Annuschka krank geworden, es mag nun Monate her sein, seitdem ist Glück und Segen von uns gewichen. Auch ihm kann es nicht gut gehen, das weiß ich bestimmt, und was Sie vorher sagten, war doch nur eine Schonung. Sehen Sie wohl, Sie schweigen jetzt. Ich bitte Sie fußfällig, verheimlichen Sie mir nichts!"
„Dazu ist kein Grund vorhanden, verehrte Frau, Sie sind vollständig im Jrrthum. Ich kann Ihrem Gatten nur das beste Zeugniß geben in allen Beziehungen. "
„Ich danke Ihnen!" rief sie und berührte zum ersten Male meine Hand. „Ich danke Ihnen von ganzem Herzen. Wenn Sie wüßten, wie böse die Menschen sind. Was habe ich Alles hören müssen im vorigen Jahre: er sei ein Trinker geworden, ein Landstreicher, ein verlorener Mensch. Gott sei Dank, es war doch Alles nur Verleumdung, wie ich gleich dachte. Und gesetzt auch, es wäre so gewesen und er wäre noch tiefer gesunken, zum Verbrecher, was weiß ich, meinen Glauben würde ich ihm dennoch bewahren trotz alledem. Der Vater meiner Annuschka ist immer ein edler Mensch gewesen — mein Ein und Alles! Nur daß er so lange schweigt dießmal, das ist nicht gut von ihm; aber er kann ja krank gewesen sein, o gewiß, er muß sehr krank gewesen