Sherwood von Julius Grosse.
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„Wer ist da?" fragte eine sanfte, wohllautende Stimme.
„Der Oberst P. vom Bug'fchen Ulanenregiment ans Novomirgorod."
Gleich darauf wurde der Riegel weggeschoben und die Thüre öffnete sich.
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Eine Gestalt stand auf der Schwelle. Wie soll ich ihren Eindruck beschreiben? Noch heute nach so langen Jahren ist mir jener Augenblick unvergeßlich geblieben.
Die Figur war etwas über Mittelgröße, schlank und anmuthig, die Haltung etwas gebeugt. Ihr Anzug bestand aus einem abgetragenen Seidenkleid, im Schnitt an den altmodischen Sarafan erinnernd, um das offene Haar war ein schwarzer Spitzenschleier geschlungen; in dem blaffen, verhärmten Gesicht mit den edelgeschnittenen Zügen leuchteten zwei große, unergründliche Augen, voll Ernst und Kindlichkeit, so daß ich momentan die ganze traurige Umgebung vergaß.
Sie betrachtete mich prüfend von Kopf zu Füßen, ließ aber das Schloß der Thüre keinen Augenblick aus der Hand.
„Mein Herr — wenn ich recht verstanden habe," sagte sie mit müdem Tone.
Ich stellte mich nochmals in aller Form vor als Oberst von P. und als Chef ihres Gatten Sherwood in Novomirgorod.
Da belebte sie sich sichtlich. „Also habe ich doch recht gehört. Sie kommen von ihm! O mein Gott, endlich eine Kunde von ihm! Wollen Sie nicht ein- treten?"
„Würden Sie mir einige Worte unter vier Augen vergönnen?"
„Warum nicht, Herr Oberst," und sie warf mir abermals einen prüfenden Blick zu, der dann Frau Werotschka streifte.
Frau Jakouschin aber schien von meinem Wunsche keine Notiz nehmen zu wollen; ihr Mundwerk ging immer noch wie ein Mühlrad und ihr vorhin halb gemüthlicher Ton schwand jetzt in barschen Vorwürfen und befehlshaberischen Weisungen, als wenn sie nicht eine vornehme Dame, sondern ein unmündiges Kind vor sich hätte.
„Sie, meine Beste, spreche ich nachher," sagte ich, „jetzt wollen Sie uns gefälligst allein lassen." Und damit schob ich die werthe Matrone ohne Umstände zur Thür hinaus, die ich verschloß.
Noch ließen sich eine Weile die polternden Scheltworte der Unliebsamen hören, dann wurde es plötzlich still.
Jetzt waren wir allein und ich sah mich in dem tiefen, düsteren Raum um. Frau Nadjeschda war bis zur entgegengesetzten rechten Fensterecke zurückgewichen. Dort unter dem Heiligenbilde stand ein niedriger Tisch und auf diesem eine ausgebahrte Kiiidesleiche im Sarge, umgeben von brennenden Lichtern. Es fehlte nicht an den üblichen weißen Blumen, jetzt Zum Theil wohl künstlichen, und um die Stirn der kleinen Leiche waren Papierspitzen befestigt mit frommen Sprüchen. Der Geruch der
welken Baumzweige und Tannenreiser, mit denen der Sarg geschmückt war, auch Kerzendunst und Weihrauch füllten das Zimmer mit so erstickendem Qualm, daß ich zum Fenster ging, um es etwas zu öffnen.
Im ganzen Raume war nur noch ans einem Fenstertritt ein Nähtisch mit einem Stickrahmen zu bemerken, an der Wand ein kleiner, blinder Spiegel, darunter ein Vogelbauer mit einem grauen, ausgestopften Papagei, daun einige ordinäre Stühle, ein elendes Schlafsopha und im Winkel eine Kinderbettstelle, die jetzt mit Kleidern und Wäsche gefüllt War. Auch ein fadenscheiniger türkischer Teppich, der vor dem Sopha ansgebreitet war, erzählte wie alles Uebrige dieser Ausstattung von verschwundener: besseren Tagen.
Frau Nadjeschda stand mit gefalteten Händen am Kopfende des kleinen Sarges und sah bekümmert auf das wachsgelbe Gesicht ihres Lieblings nieder. Offenbar schwieg die vornehme Frau aus Verlegenheit und Beschämung, daß ich Zeuge jenes unwürdigen Auftritts mit der Hausfrau geworden war.
Möglich, daß der Eindruck der ganzen trübseligen Situation mich zu Aeußerungen des Mitleids verführt haben würde, wenn nicht die achtunggebietende Haltung der Dame mir Zurückhaltung auferlegt hätte. Ich erwähnte also wie beiläufig, daß ich seit zwei Tagen in Geschäftsangelegenheiten in Smolensk anwesend und wie schwer es mir geworden sei, sie aufzufinden. Sherwood würde sicherlich entsetzt sein, wenn er wüßte, in welcher Umgebung sie lebe und bei solchen Leuten.
„Was wollen Sie," sagte sie, „die Jakouschin ist eine gute Frau, nur manchmal hat sie ihre böse Stunde. Den armen Leuten geht es jetzt auch nicht besonders. Man muß sich in das Leben schicken, und ich am wenigsten darf Ansprüche machen."
„Aber erlauben Sie mir, diese Höhle gleicht ja einem wahren Gefängniß. Kommen Sie niemals aus?"
„Früher wohl. Frau Werotschka zwang mich sogar dazu, auszufahren oder zu promeniren. Aber es war mir immer widerwärtig, der Zudringlichen halber. Zuletzt hat mich bisweilen Monsieur Parchemin begleitet, ein drolliger Kauz, ein braver Mensch, aber dann war es nur um so auffallender. Jetzt hat er andere Wege zu gehen und bekümmert sich nicht mehr um mich. Was will ich auch sonst machen. Frau Werotschka thut, was sie kann."
Ich sah, die Aermste war völlig eingeschüchtert und geradezu im Bann dieser widerwärtigen, mir vom ersten Augenblick an verdächtigen Alten.
Nochmals ging ich zur Thür, um nachzusehen, ob wir unbelauscht seien. Glücklicherweise ließ sich ein entferntes Klopfen und eine rufende Stimme vernehmen, wahrscheinlich die der Magd. Gleichzeitig hörte ich, wie sich eilige schwere Schritte von draußen entfernten. Auch die Thür des Nebenzimmers wurde geöffnet und wieder zugeworfen. Jetzt schien die Luft rein zu sein; ich nahm einen Stuhl und setzte mich.
„Ich bitte, reden Sie frei heraus, Frau Nadjeschda. Jetzt sind wir ungestört."