Eigenart und geschichtliche Wirksamkeit den Dichter ein Leben lang anzogen. Denn soviel stand ihm unverrückbar fest, daß „der niedersächsische Stamm: Altmärker, Halberstädter, Magdeburger, Hannoveraner, Braunschweiger, Westphalen, Schleswig-Hosteiner, Hanseaten, Oldenburger, Ostfriesen ... allen andern Stämmen physisch und moralisch überlegen“ sei. Er sprach von der „historischen Mission der Stämme zwischen Elbe, Weser und Ems“ und nannte ihre geschichtliche Leistung „ein richtiges erfreuliches Beispiel von Ursache und Wirkung“ und ihren Lebensraum die „Wiege jenes Angelsachsentums, dem die moderne Welt entsprossen ist“ 8 . „An der Küste hin“ schmeckte ihm alles „nach England, Skandinavien und Handel, in Brandenburg und Lausitz . .. nach Kiefer und Kaserne“. Gleidiwohl hat er die von ihm so deutlich favorisierten Niedersachsen niemals etwa gänzlich unkritisch gesehen. Er verschwieg nicht, worin sie ihm „wenig angenehm“ erschienen und wo sich neben ihre „Tugenden“ auch gewisse „Bedrüeklichkeiten“ stellten.
„Aber die Hannoveraner sind feine Leute“, so versichert Sander im „Schach von Wuthenow“. „Ja, das sind sie“, bestätigt Frau von Carayon und fügt hinzu: „Vielleicht auch etwas hochmütig“. Damit nicht genug. Fontane schrieb den Niedersachsen sogar einen gewissen Mangel an rechter Liebenswürdigkeit zu, welcher ihm freilich aufgewogen wurde durch deren unbestechliches Gefühl, Mut, Tapferkeit, Nüchternheit, Charakterstärke, Klugheit und Anstelligkeit. Ebensowenig wie Bülow vermochte er an eine „Spezialaufgabe Kalenbergs und der Lüneburger Heide“ zu glauben und tadelte den Hang zur Selbstgerechtigkeit, dennoch überwog bei ihm stets die positive Einschätzung alles Niedersächsischen, welche sich bisweilen sogar bis zur Huldigung steigern konnte.
Tatsächlich wuchsen dem Hohenzollernstaat von niedersächsischem Boden immer wieder hochqualifizierte Menschen (Hardenberg, Thaer, Scharnhorst, Windthorst, Miquel u. v. a.) zu, ein Zustrom, der sich nach 1866 dergestalt belebte, daß der Anspruch umgehen konnte, Hannover habe Preußen annektiert.
Kein Wunder, wenn Fontane seinem Besuch in der alten Weifenresidenz, welchen er auch schriftstellerisch zu nutzen gedachte, mit besonderen Erwartungen entgegensah. Damals plante er eine Novelle unter dem Titel „Eleonore“ (sie blieb Fragment), die im Hannover des letzten Weifenkönigs Georgs V. spielen sollte 0 . Seiner Gewohnheit folgend, wollte er den künftigen Schauplatz um seinen „Lokalton“ befragen. Er schied von der Stadt mit unterschiedlichen Empfindungen. Wohl registrierte er deren kühle Vornehmheit, jedoch ließ ihn das „Raufgepuffte“, die forcierte Neugotik, mit welcher sich Hannover im Zeitalter des Historismus zu schmücken begonnen hatte, zugleich auf Distanz gehen.
Fontane kam damals (1880) von Ostfriesland, wo er Archivstudien für das Hoppenrade-Kapitel („Wanderungen“, Bd. V) betrieben und zugleich freundschaftliche Kontakte zu einer der ersten niedersächsischen Adelsfamilien (Inn- und Knyphausen) geknüpft hatte, welche sich durch zwei Sommeraufenthalte auf Norderney (1882 und 1883) und darüber hinaus fortsetzen sollten.
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