Heft 
(1984) 38
Seite
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Nr. 22

Berlin 3. Okt. 89 Potsd. Str. 134.C.

Hochgeehrter Herr.

Seit gestern Abend habe ich nun die 1. Nummer Ihrer Wochenschrift 515 durchgelesen, Zeile um Zeile, und ich werde Ihnen hoffentlich nicht zu­dringlich erscheinen, wenn ich unaufgefordert ein Wort darüber sage. Das Meiste, namentlich Hopfens Novellen-Anfang 513 , habe ich gleich beim Lesen mit Zeichen und Bemerkungen begleitet, aber was frommt es, Ihnen noch nachträglich mit solchen Details zu kommen. Also alles ganz kurz, erst die einzelnen Nummern, dann ein Wort über das Ganze. Bei H. H. die Ein­leitung zu breit. Alles was er, durch den Major 21 '' redend eingeführt, die Baronesse 215 zur Charakterisirung dieser sagen läßt, ist ausgezeichnet; der Major selbst aber, wo er sich giebt, hat zu viel von Hopfen und ergeht sich in Schreibtisch- aber nicht Kneiptisch-Sentenzen. 216 Preyer 517 ist sehr an­ständiger aber ziemlich lederner Durchschnitt. Dasselbe gilt von Widmanns Aufsatz 218 . Nicht dasselbe gilt von Faustus 219 ; doch wäre es besser, es gälte auch von ihm. Ich muß das schreiben, trotzdem ich es nicht für unmöglich (wenn auch nicht für wahrscheinlich halte) daß dieser Artikel vom getheil- ten Frankreich von Ihnen ist. Die Stelle von Neu-Caledonien 220 (das Beste) ist sehr gut, sowohl die in der Mitte des Aufsatzes, wie die darauf recur- rirende am Schluß. Nein, es kann doch nicht von Ihnen sein, es ist nicht witzig genug; die neu-caledonische Stelle hat mich blos zu dieser Annahme verführt. Spielhagen 221 befriedigt mich nur in dem, was ihm als Familien­anekdote von seinen Eltern erzählt worden ist; die Tradition ist viel besser als ihr Niederschreiber und dessen Arabesken dazu. Die ganze Vortrags­weise völlig antiquirt; das muß ich sagen, der ich fast 10 Jahre älter bin. Nun folgen die beiden besten Nummern: Moszkowski 222 und Fritz Mauth- ner 22:! . Wem der Vorrang gebührt, weiß ich nicht. Beide Aufsätze sind auch Muster darin, daß ihr ernster und nur zu zutreffender Inhalt ebenso interessirt, wie die witzige Form. Der Aufsatz von P. Vischer 22 ' 1 ist recht gut, viel besser, als die Aufsätze von Preyer und Widmann. Sehr hübsch die kleinen Kritiken 225 über die beiden Franzosen 221-, die Bismarckbriefe 22 ", diebesten Bücher 228 und dieGesellschaft von Berlin 229 , lauter reizende kleine Sachen, deren Verfasser, trotz des Versteckspielens mit M., mh. und r., nicht schwer zu errathen ist 230 . Die ganze Nummer, nachdem ich nun ihren Gesamtinhalt kenne, gefällt mir sehr, trotzdem ihr das eigentlich Erobernde fehlt, das für ein neues Unternehmen so viel bedeutet. Es wird erzählt, daß Ihr Freund Rodenberg 211 dem Umstande sein Glück (oder doch das seinerRundschau) verdanke, daß er dieselbe mit der Geyer-Wally der Frau v. Hillern beginnen konnte 232 . Das Publikum verlangt nicht einen saubren, geschmackvollen Kranz, sondern ein Feuerlilienbouquet, das man ihm derart unter die Nase stößt, daß es niesen muß 233 . Gräfin Waldersee als Miß Lee 23 '*, Geheimrath Hintzpeter 235 über Prinzen-Erziehung, Maler Salzmann 236 und Kaiser Wilhelm auf den

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