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für ihren Bruder zu fordern, bis es endlich völlig unmöglich geworden war. Freilich, es wußte ja niemand, daß sie eine Zeugin seiner Beschimpfung gewesen sei — niemand außer Lothar, und der Gedanke, daß er sie an Wolfgang verrathen könnte, beunruhigte sie nicht für einen einzigen Augenblick. Aber sie gewann keine Erleichterung aus dieser Gewißheit seines Schweigens. Denn daß er sich mit dem Verrath an seiner Freundschaft gewissermaßen zu ihrem Mitschuldigen gemacht hatte, war ja um den Preis seiner Achtung geschehen; nicht eine Uebereinstimmung der Gesinnung, sondern ein geringschätziges Mitleid hatte ihn zu ihrem Bundesgenossen gemacht — sein Schweigen war eine Demüthigung, ein stummer und doch unerträglich beredter Ausdruck seiner Verachtung !
War ihre Liebe für Engelbert denn wirklich so heiß und tief, daß sie um ihretwillen Tag für Tag die Last dieser kläglichen Erkenntniß weiterschleppen mochte? Ach, wenn sie nur eine Antwort gehabt hätte auf diese immer wiederkehreude Frage! Jetzt, wo sie seine schöne, ritterliche Erscheinung nicht vor sich sah, wo sie den Klang seiner volltönenden, einschmeichelnden Stimme nicht vernahm, hatte sie wahrlich nicht den Mnth, sich selbst mit einem freudigen, rückhaltlosen „Ja" zu belügen. Noch immer fühlte sie etwas von dem Nachzittern des tödlichen Schreckens, der sie durchzuckt hatte, als sie in dieser Nacht ihrem Vetter Lothar die Erklärung gegeben hatte, daß sie seinen Bruder liebe. War das wirklich nur die spröde Scham des jungfräulichen Herzens gewesen, das sich wider Willen sein kostbarstes Geheimniß entreißen ließ, oder hatte sie in jenem Augenblick unter der unbarmherzigen Klarheit, die von dem gesprochenen Wort ausgeht, erkannt, daß jenes Geständniß eine Unwahrheit, daß ihre Liebe eine Täuschung gewesen sei wie Cillys Neigung für den Prinzen von Waldburg?
Nein, sie durfte nicht daran denken, daß es so sein könnte! Und es war ja auch unmöglich! Hatte sie Engelberts heißen Liebesworten denn nicht mit Entzücken gelauscht? Hatte sie denn nicht mit wonnigem Erschauern seine brennenden Lippen auf ihrem Munde gefühlt? Wenn sie jetzt außer stände war, die Seligkeit jener Augenblicke durch die Erinnerung von neuem wachzurufen, so konnte nur eine vorübergehende Verstimmung ihres ganzen Wesens, nicht ein Erkalten oder Erlöschen ihrer Liebe die Schuld daran tragen, und nur aus dieser Verstimmung war es wohl auch zu erklären, wenn sie so heftig vor dem Gedanken erzitterte,- daß das erste Gespräch unter vier Angen, welches sie aus Anlaß jener Ballunterhaltung über ihren Bruder mit Engelbert führen würde, nothwendig entweder eineil Bruch oder ein öffentliches Bekennen ihres Herzensbündnisses im Gefolge haben müßte. Ihrer weiblichen Würde war sie es ja ohnedies schuldig, dies letztere von ihm zu fordern, aber sie wußte nicht, ob es die Verlobung mit Engelbert oder der Bruch mit ihm war, was ihr in diesen Stunden quälenden Zweifels als das Fürchterlichste erschien.
Was sie auch thun mochte — das eine wie das andere konnte sie unglücklich machen, und zu dem einen wie zu dem anderen gebrach ihr der Math. Daß sie ihren Bruder von ganzem Herzen liebte, daß eine Kränkung, welche ihm widerfuhr, sie selbst aufs schmerzlichste traf — niemals hatte sie es deutlicher empfunden als gerade jetzt; aber sie besaß dessenungeachtet ebensowenig die Entschlossenheit, mit ihrer eigenen Person für ihn einzutreten, als zu ihm zu eilen und ihm alles zu beichten. Später — morgen vielleicht oder nach einer kleinen Anzahl von Tagen — wollte sie ihm ja gerne reuig bekennen, was sie an ihm gesündigt hatte; jetzt aber mußte sie Zeit gewinnen — Zeit, um zur Klarheit zu gelangen über sich selbst und um den Weg zu finden, welchen sie Zuschlägen durfte, ohne ihr eigenes Lebensglück zu zerstören.
Als sie am nächsten Morgen das Frühstückszimmer betrat, hatte sich die Zahl der Gedecke um eines verringert. Lothar erschien nicht, und man hatte ihn offenbar auch gar nicht erwartet. Niemand erwähnte seiner, und obwohl sich ihre Gedanken unausgesetzt mit ihm und mit den mnthmaßlichen Gründen seines Fernbleibens beschäftigten, würde Marie es doch niemals übers Herz gebracht haben, eine Frage nach ihm zu thun. Doch als sie nachher mit Cilly allein war, duldete es sie nicht länger in dieser Ungewißheit, und scheinbar beiläufig, doch mit stockender Stimme, erkundigte sie sich nach dem Assessor.
„So weißt Du gar nicht, daß er heute in aller Gottesfrühe ausgezogen ist?" fragte Cilly verwundert. „Gestern im Laufe
des Tages hat er sich in Moabit eine eigene Wohnung gemiethet, und am Abend hat er uns ohne viele Umstände das Quartier aufgekündigt. Der Weg, den er täglich zu machen hatte, um sich mit seinen geliebten Verbrechern zu unterhalten, war ihm wohl zu unbequem, und außerdem störte ihn die Geselligkeit, die zu seinem Entsetzen in unserem Hanse gepflegt wird. Mit der bewunderungswürdigen Offenheit, die ihm nun einmal eigenthümlich ist, erklärte er gestern abend in unserer Gegenwart dem Papa, er halte neun Zehntel aller Abendgesellschaften, Bälle, Gastmahle und musikalischen Thees für die sündhafteste Vergeudung von Zeit und Kräften, und er sei entschlossen ^ . sich von diesem hohlen Treiben viel entschiedener fernzuhaltenj-alls'es ihm unter unserem Dache möglich wäre. Nun, es hat keines von uns den Versuch gemacht, ihn mit Bitten und Thrünen zum Dableiben zu bewegen. Ein wie guter Mensch er auch ist, hier steht er mit seiner pedantischen Schwerfälligkeit doch überall im Wege."
Bei ihrem eifrigen Geplauder hatte sie kaum beachtet, daß Marie plötzlich das Gesicht abgewendet und sich sehr angelegentlich mit den Notenheften auf dem Flügel zu schaffen gemacht hatte, und sie fand es auch durchaus nicht auffällig, daß ihre Base das Gespräch sehr rasch auf einen anderen Gegenstand lenkte. Ihr Bruder Lothar war ja eine so uninteressante Persönlichkeit! —-
Wie lebhaft würde sich wohl ihre Verwunderung geäußert haben, wenn sie gesehen hätte, daß in Mariens Augen die Hellen Thränen schimmerten — Thrünen der Beschämung, des Zornes und des uneingestandenen Kummers. Sie wußte ja besser als alle anderen Bewohner des Hauses, weshalb Lothar von Brencken- dorf sich eine andere Heimstätte gesucht hatte! —
Wie eine unschätzbare Wohlthat empfand Marie die eigenartigen Zerstreuungen, welche ihr die nächsten Tage brachten.
Ein großes, gesellschaftliches Ereigniß war es, das seine Schatten vorauswarf — ein Ereigniß, welches ganz danach an- gethan war, den Sinn und die Zeit der jungen Damen ausschließlich in Anspruch zu nehmen.
Eine furchtbare Ueberschwemmung hatte die östlichen Theile des Landes heimgesucht, hatte grauenhafte Verwüstungen angerichtet, Tausende und Abertausende ihrer geringen Habe beraubt und ihnen auf Jahre hinaus die Möglichkeit genommen, dem verschlickten und versandeten Boden aufs neue die Mittel zur Erhaltung ihres Daseins abzuringen.
Wohl lieferten die minder hart betroffenen Ortschaften der so schwer geprüften Provinzen sofort die herrlichsten und erhebendsten Beweise werkthätiger Menschenliebe, wohl leisteten die Staatsbehörden an erster, schleuniger Hilfe alles, was ihre verfügbaren Mittel ihnen gestatteten, und der Landesherr selbst spendete ohne Zögern aus seinen Privatmitteln eine sehr bedeutende Summe. Aber das alles war nicht viel mehr, als eine Rettung der Obdachlosen, der Hungernden und Frierenden vor dem unmittelbaren Verderben — eine wirkliche, nachhaltige Hilfe vermochten bei der unabsehbaren Größe des Elends solche Beträge nicht zu gewähren. Dazu bedurfte es einer Aufwendung von Millionen, und ein einziger lauter Hilfeschrei hallte durch die ganze gesittete Welt, um diese Millionen zu beschaffen.
So weit das geschriebene und das gedruckte Wort über die bewohnte Erde zu dringen vermochte, thaten sich überall die Herzen auf wie die Hände. Und der Geldschrank des Reichen wie das magere Bentelchen des Armen — die sicher versteckte Kassette des Geizigen wie die Sparkasse des Kindes — sie alle spendeten ihr Scherflein zu der großen Liebesgabe, die man den Heimgesuchten reichte.
Daß die Hauptstadt des Reiches die Führung der großen Wohlthätigkeitsbewegung übernehmen mußte, war bei der Lage der Verhältnisse von vornherein selbstverständlich, und wenn bei einem solchen einmüthigen Znsammenschlagen aller warmfühlenden Herzen auch von irgend welchen Unterscheidungen nach Rang und Stand nicht die Rede sein konnte, so ersann man doch neben der Betheiligung an den allgemeinen Sammlungen, bei denen der Name eines Fürsten oft neben denjenigen eines schlichten Handwerkers zu stehen kam, in den einzelnen Gesellschaftskreisen die mannigfaltigsten und verführerischsten Mittel, um seinen Freunden, Bekannten oder Standesgenossen in irgend einer angenehmen Form noch eine weitere Opfergabe zu entlocken.