Karl Richter (Saarbrücken)
Lyrik und geschichtliche Erfahrung in Fontanes späten Gedichten
Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts war der Lyrik nicht günstig. Den Bemühungen um einen neuen Realismus der Literatur schienen Gedichte keine so günstigen Ansatzflächen zu bieten wie die Erzählprosa. Während sich in dieser der Zeilbezug spürbar intensiviert, wird er in der gleichzeitigen Lyrik eher weiter abgebaut. Der Zugang zur politischen Lyrik, die im Vormärz so viel Raum gewonnen hatte, reißt weitgehend ab. 1 * Die Hervorkehrung des Subjektiven in der späten Lyrik Th. Storms oder die des Ästhetischen bei C. F. Meyer macht immerhin teilweise die verdeckten Reaktionszusammenhänge bewußt, mit denen sich Gedichte hier gegen die Zeit abschirmen und das Eigenrecht einer literarischen Gegenwelt in Anspruch nehmen. So reflektiert verfahren die Autoren zweiten und dritten Ranges nicht, auf die ein auffällig großer Anteil der lyrischen Produktion in dieser Zeit entfällt. Der große Erfolg der Lyrik eines Geibel, Bodenstedt, Scheffel oder Lingg beruht darauf, daß sie die Lyrik einerseits an konventionelle Formerwartungen anpassen, andererseits aber auch darauf, daß sie viel unverhüllter einem verbreiteten Leserbedürfnis nach Zeitflucht, Überhöhung der Wirklichkeit und erbaulicher Tröstung entgegenkommend Konventionalität und Zeitentrückung gehen hier eine enge Verbindung ein.
Auch die recht konventionelle Lyrik Fontanes, die seinem Spätwerk vorangeht, bestätigt diesen Bedingungszusammenhang. Nachdem sie sich im Umkreis der Revolution von 1848 für kurze Zeit noch an Traditionen der politischen Vormärz-Lyrik an lehnt, macht sie in den folgenden Jahrzehnten die Entpolitisierung und den Rückzug gegenüber der eigenen Zeit voll mit. Auch hier gehen Konventionalität und Zeitfeme zunächst also Hand in Hand. Andererseits deutet der Sachverhalt aber auch Zusammenhänge an, die art das Verständnis der späten Lyrik heranführen. Denn er legt den Schluß nahe, daß nun auch das andere zutreffen könnte, geschärftes Zeitbewußtsein und das auffällig Unkonventionelle dieser Lyrik nur zwei Seiten derselben Sache sind. Daß die intensive Zeitbezogenheit nicht nur zu den neuen Momenten der späten Lyrik Fontanes zählt, sondern daß sich Zeitoffenheit und das Verlassen der Konventionen in ihr geradezu gegenseitig bedingen, ist die These, von der sich die folgenden Ausführungen leiten lassen. 3
1. Die Geschichtlichkeit des Alltags
Vergegenwärtigen wir uns das Neue und Andere der späten Lyrik Fontanes
am Vergleich zweier Gedichte. E. Geibel, einer der erfolgreichsten Lyriker der Zeit, bietet sich einem solchen Vergleich an.
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