Heft 
(1985) 39
Seite
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Pfarrhausidyll ist das folgende Geibel-Gedicht überschrieben:

Der Samstagabend dämmert. Draußen flockt der Schnee herab. Im Zimmer dunkelts tief Und nur des Ofens Flackerschein umspielt Den großen Schreibtisch und den Bücherschatz,

Der Band an Band sich an den Wänden reiht.

In seinem Armstuhl ruht, zurückgelehnt,

Der junge Prädikant und übersinnt Den Text noch einmal, den er andern Tags Erläutern soll. Die Predigt hat er schon Vollendet in der Früh, und eben jetzt Schwebt ihm der Übergang zum Amen vor,

Der Segensspruch, mit dem er schließen will,

Wie wohl ein Gärtner den gelungnen Strauß Zuletzt noch krönt mit einer Lilie.

Bewegt in tiefster Seele findet er

Das rechte Wort und hoch und höher trägt

Ihn des Gedankens Adlerflug hinan:

Da tritt sein junges Weib herein mit Licht.

Doch wie sie des geliebten Mannes Stirn Vom Strahl des Geistes überleuchtet sieht,

Erscheint er plötzlich schöner ihr, wie sonst,

Voll fremder Hoheit, fast wie ein Prophet,

Und schaudernd bleibt sie auf der Schwelle stehn. 4

Drei Tendenzen vor allem sind für diesen Text bezeichnend. (1) Er sucht Erhabenheit und Feierlichkeit, vermeidet demgemäß alles .Gewöhnliche und Alltägliche. Es ist Samstagabend: ein Prediger hat seine Predigt voll­endet und stellt sich auf das gottesdienstliche Geschehen des nächsten Tages ein. Der Augenblick im Alltag des Geistlichen wird aufgenommen als Stunde der Weihe und Erleuchtung, die zuletzt auch das Verhältnis der Eheleute überstrahlt. Der preziöse Stil und die Klassizität heischenden fünfhebigen reimlosen Jamben dokumentieren die angestrebte Höhenlage. (2) Innerlichkeit und Zeitentrückung sind wesentliche Werte des entwor­fenen Pfarrhausidylls. Bezeichnenderweise führt der Gedichtvorgang von außen nach .innen: von der Erinnerung desDraußen in die behaglich- weihevolle Atmosphäre des Zimmers und weiter zur Bewegung derSeele und demAdlerflug desGedankens. (3) Beide Aspekte der Darstellung lassen auf eine Wirkungsabsicht schließen, die auf die Hervorbringung von Stimmung, .edlem Gefühl und Erbauung abzielt, gegenüber den Bedin­gungen der Realität entrücken und entlasten will.

Ganz anders z. B. Fontanes Gedicht ..Würd es mir fehlen, würd ichs vermissen?:

Heute früh, nach gut durchschlafener Nacht,

Bin ich wieder aufgewacht.

Ich setzte mich an den Frühstückstisch,

Der Kaffee war warm, die Semmel war frisch,

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