Ich habe die Morgenzeitung gelesen,
(Es sind wieder Avancements gewesen).
Ich trat ans Fenster, ich sah hinunter,
Es trabte wieder, es klingelte munter,
Eine Schürze (beim Schlächter) hing über dem Stuhle, Kleine Mädchen gingen nach der Schule, —
Alles war freundlich, alles v/ar nett,
Aber wenn ich weiter geschlafen hätt’
Und tät’ von alledem nichts wissen,
Würd’ es mir fehlen, würd’ ich’s vermissen? (S. 28)
Punkt um Punkt kann der Vergleich mit dem Geibel-Gedicht hier auf entgegengesetzte Intentionen der Gestaltung schließen. (1) Auch hier wird auf eine Situation im Tagesablauf reflektiert, nicht zufällig freilich das Nüchterne eines durchschnittlichen Morgens. Der Text bekennt sich dabei zum Alltag gerade in seinen scheinbaren Nichtigkeiten und Trivialitäten: dem Morgenkaffee, der Semmel, der Zeitung etc. Dementsprechend sucht der Stil des Gedichts in der Wortwahl, der Bevorzugung parataktischer Reihung und den Füllungsfreiheiten des Knittelverses die Nähe zur Umgangssprache. (2) In der Bewegungsrichtung des Gedichtvorgangs erkennen wir das Verhältnis von ,Innen“ und .Außen“ geradezu umgekehrt. Die Situation des morgendlichen Erwachens und der Frühstückstisch scheinen auch hier die Perspektive auf eine fragwürdige Intimität und Privatheit zu begrenzen. Doch die Motive des Zeitungslesens und der Blick aus dem Fenster wirken einer solchen Eingrenzung entgegen, stellen eine Offenheit des .Drinnen“ für das .Draußen“ her. (3) Aus allem können wir auch auf eine entgegengesetzte Wirkungsabsicht schließen. Die zum Ausdruck gebrachte Relativität der Dinge appelliert an eine skeptische Beweglichkeit, für die Bewußtheit und Distanz konstitutiv sind. Und das Gedicht ermuntert auch nicht zu Zeitentrückung, sondern zu jener Teilhabe an Zeit und Lebenswirklichkeit, die ihm selbstverständlich ist.
Was dieses eine Gedicht Fontanes zu erkennen gibt, ist kennzeichnend auch für seine späte Lyrik insgesamt. Mehrfach begegnen wir Texten, die sich gegen die Welt der großen Geschichte und des spektakulären politischen Handelns ausdrücklich abgrenzen. Das Gedicht „Verzeiht“ formuliert dies geradezu als fingierte Entschuldigung:
Verzeiht den Anekdotenkram
Und daß niemals ich einen „Anlauf“ nahm,
Auch niemals mit den Göttern grollte,
Nicht mal den Staat verbessern wollte,
Nicht mal mit „sexuellen Problemen“
Gelegenheit nahm mich zu benehmen. (S. 52)