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fühlten sich diese zugleich ihres Eides der Verschwiegenheit entbunden, und ohne Rücksicht auf ihre früheren Arbeitgeber unternahmen sie in allen Ländern, wohin sie das Schicksal geworfen hatte, die Gründung von Buchdruckereien. So verbreitete sich die junge Kunst im Fluge durch ganz Europa. Bereits 1465 wurde sie in Italien eingeführt, 1468 in der Schweiz, 1470 in Frankreich, 1474 in den Niederlanden, 1475 in Spanien, 1477 in England, 1483 in Skandinavien, 1490 in Dänemark ?c. Am Ende des Jahrhunderts gab es nicht weniger als 910 Buch- bruckereien.
Die Druckwerke, welche von der Erfindung der Buchdruckerkunst bis zum Jahre 1500 hergestellt wurden, pflegt man „Inkunabeln" oder „Wiegendrucke" zu nennen. Die Zahl derselben ist größer, als man vielfach annimmt. Van d. Linde berechnet die noch vorhandenen Bücher und Flugschriften auf mehr als 30 000 selbständige Werke, wozu noch eine große Zahl kommt, die uns nicht erhalten geblieben sind. Rechnet man eine durchschnittliche Auflagehöhe von 500 Exemplaren, so kann man annehmen, daß bis zum Jahre 1500 mindestens insgesammt 15 Millionen Bücher mit Hilfe der neuerfundenen Buchdruckerknnst hergestellt und wohl auch verbreitet waren. Die antiquarisch werthvollsten derselben sind natürlich die von Gutenberg herrührenden, vor allem die 36- und die 42zeilige Bibel. Von ersterer sind
bis jetzt 9, von letzterer etwa 30 mehr oder minder vollständige Exemplare bekannt, die in verschiedenen Bibliotheken aufbewahrt werden. So Exemplare der 36zeiligen Bibel in Wolfenbüttel, Jena, Leipzig, Stuttgart, Wien, Paris, Althorp (Lord Spencer), London, Antwerpen. Exemplare der 42zeiligen Bibel liegen in Aschaffenburg, Klein-Bautzen, Berlin, St. Blasien (Schwarzwald), Leipzig, Erfurt, Frankfurt a. M., Fulda, Mannheim, München, Rebdorf an der Altmühl, Trier, Wien, London, Althorp, Paris, Petersburg und Rom.
Die Preise, welche heute für Gutenbergbibeln gezahlt werden, schwanken je nach dem Schmuck der Anfangsbuchstaben und der Sauberkeit der Exemplare zwischen 50 000 bis 80000 Mark. Das Pergamentexemplar der Klemmschen Sammlung — jetzt Buchgewerbemuseum in Leipzig — kostete 66 000 Mark; ein Papierexemplar der 42zeiligen Bibel wurde 1868 in London für 52 960 Mark verkauft, ein Pergamentexemplar des Brauers Perkins in London 1873 für 78 000 Mark. Hatte Gutenberg vor 450 Jahren das Kapital zur Verfügung gehabt, welches jetzt die Bücherliebhaber für ein einziges seiner Druckwerke bezahlen, so hätte er seine Erfindung sorgenlos zur höchsten Vollkommenheit ausbauen können und wäre nicht gezwungen gewesen, um die Theilnahme engherziger Geldleute zu betteln und schließlich von den Almosen - eines Bischofs zu leben.
Madonna im Mosen Hag
(Fortsetzung.) Roman von WernHold KrLnrnnn.
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n dem getäfelten Speisezimmer der Villa des Generals von Brenstendorf standen sich am Vormittag des folgenden Tages die beiden Brüder gegenüber. Vor zehn Minuten erst war Lothar gekommen und er hatte eine geraume Weile warten müssen, bis Engelbert sich ihm zu der gewünschten Unterredung unter vier Augen zur Verfügung stellen konnte. Doch obwohl sie nur wenig Worte gewechselt hatten, schien sich bereits eine recht unbehagliche Stimmung über ihr Gespräch gelegt zu haben. Engelbert, der schon in vollständigem Dienstauzuge war, lehnte ziemlich nachlässig an dem großen Speisetisch, die Hände über dem Gefäß seines Säbels zusammengelegt und mit gerunzelter Stirn auf die Fußspitzen seiner Reiterstiefel herabblickend. Lothar stand ruhig und aufrecht vor ihm; er trug die verbundene linke Hand in einer schwarzseidenen Schlinge und unter seinen Augen lagen Schatten wie bei jemand, der einen empfindlichen Fieberanfall noch nicht ganz Überstunden hat.
„Du mußt mir schon gestatten, die ganze Angelegenheit etwas sonderbar, um nicht Zusagen: lächerlich, zu finden," meinte Engelbert, der ein wenig mit der Erwiderung auf die letzten Worte Lothars gezögert hatte. „Von wem, wenn man fragen darf, hast Du denn den Auftrag erhalten, mich so in aller Form zur Rede zu stellen?"
„Ich nehme mir das Recht dazu als Dein älterer Bruder und als Zeuge der Beleidigung, welche Du einer Dame an- gethau hast."
„Nun gut, ich will diese Berechtigung nicht weiter prüfen, denn es liegt mir gar nichts daran, eine dramatische Scene herbei- zusühren. Aber Du verwechselst die Thatsachen, mein Lieber! Wenn von einer Beleidigung die Rede sein kann, so war nur ich es, der sie erfuhr. Dein Schützling hat mich auf dem Wohl- thatigkeitsbazar in Gegenwart zahlreicher Personen auf eine unter wohlerzogenen Leuten geradezu unerhörte Weise beschimpft."
„Sv war ihre Kritik Deiner Handlungsweise eine unberechtigte? So hatte sie keinen Grund, Deine Verlobung mit der Gräfin Hainried als eine von Dir begangene Ehrlosigkeit zu behandeln ?"'
„Nein, wahrhaftig, dazu hatte sie keinen Grund!" fuhr der Offizier auf, einen keineswegs freundlichen Blick auf den unbequemen Frager werfend, „und ich möchte niemand rathen, es ihr nachzuthun. Bin ich denn dafür verantwortlich zu machen, daß sie sich in romanhafter Ueberspanntheit irgend welche unmöglichen Dinge in den Kopf gesetzt hat? Mußte ich sie etwa nothwendig heirathen, weil ich mir einige kleine verwandtschaftliche Vertraulichkeiten gegen sie herausgenommen hatte?"
„Ich weiß nicht, was Du darunter verstehst, Engelbert, aber ich fürchte, Du ziehst zu Deiner Bequemlichkeit die Grenzen weiter, als es einem Manne von Ehre gestattet ist. Marie hatte sich unter den Schutz dieses Hauses gestellt und sie durfte darum von den Mitgliedern desselben die allerzarteste Rücksichtnahme fordern."
„Ach, bleibe mir doch gefälligst mit solchen moralischen Gemeinplätzen vom Leibe! Es ist wirklich komisch, wenn ein Stubenhocker, der die Frauen kaum aus der Entfernung kennt, sich anmaßt, Anweisungen über den Verkehr mit dem schönen Geschlecht zu ertheilen. Als wenn unseren jungen Damen an der zarten Rücksichtnahme etwas gelegen wäre! Sei versichert, daß ihnen ein flotter Bursche, der sich gelegentlich im Vorbeigehen einen Kuß stiehlt, ohne dabei gleich an Altar und Standesamt zu denken, tausendmal lieber ist als ein langweiliger Geselle, der vor lauter Rücksicht und Verehrung gar nicht bemerkt, daß sie junge Mädchen sind. Ich bin kein Fähnrich mehr, daß ich darüber von Dir Belehrungen annehmen möchte."
„Das sind Anschauungen, die Du ohne Zweifel in Deinem Verkehr mit Damen vom Theater und vom Cirkus gewonnen hast und die dort auch ihre Berechtigung haben mögen. Dachtest Du, Marie von Brenckendorf mit demselben Maße zu messen?"
„Bah! Im Grunde ist eine wie die andere, und Du hast ja jetzt den Beweis dafür, daß der Unterschied wirklich kein so bedeutender war. Die Diskretion verbietet mir natürlich, Einzelheiten zu erzählen; aber Du darfst mir glauben, daß ich bei meinen kleinen Freundinnen aus der Manege nicht bereitwilligeres Entgegenkommen gefunden habe als hier."
Lothar that einen Schritt auf ihn zu; in seinem Gesicht zuckte es, und seine Stimme hatte eine tiefere Färbung angenommen, als er sagte:
„Das lügst Du! Und Dein Verhalten verdient in Wahrheit keine andere Bezeichnung, als Marie sie ihm gegeben hat."
Engelbert fuhr aus seiner nachlässigen Stellung auf; sein Gesicht hatte sich bis über die Stirn hinauf geröthet, und er stieß mit seinem Säbel auf den Boden, daß die Gläser im Schrank erklirrten.
„Kein Wort mehr!" rief er mit dröhnender Stimme. „Ich ann mir Deine Verrücktheiten lange gefallen lassen, weil Du nun einmal mein Bruder bist. Aber jedes Ding hat seine Grenze, und ich rathe Dir, meine Geduld und meine gute Laune nicht gar zu sehr in Anspruch zu nehmen!"
„Was geht hier vor? — Ein Streit? —- Und obendrein