Die kritische Distanz verrät sich in diesen Versen schon in der Art und Weise, wie der Autor das Leben der guten Gesellschaft auf seine typischen Konturen zurückführt. Decouvrierend sind auch die Attribute, in denen dieses Typische gefaßt wird. Denn wenn z. B. im „Typus einer Engländerin“ das Äußere wie Teint und Taille, Haar und Zähne besonders betont erscheint oder bei der „Schönheit der Saison“ wenig später das „rote“ Zubehör wie Kleid, Hut und Schleier in den Vordergrund gerückt wird, so ist dieses Vorwalten des Äußeren, modisch „Abgestempelten“ auch als Ausdrude einer Lebensform gemeint. Desillusionierende Funktionen übernimmt schließlich auch der Humor, der sich u. a. an der Kontrastierung von Anspruch und bewußt gemachter Belanglosigkeit und Trivialität artikuliert und alles als „Mummenschanz“ (S. 49) durchschaut. Aber gerade diese gesellschaftskritische Desillusionierung und der Weg des Schriftstellers zu sich selbst, von dem die letzten Verse handeln, sind nur zwei Seiten derselben Sache.
Das alles belegt die Nähe zum Roman. Zwar zeichnen sich auch gattungs- speziflsche Unterschiede ab. So bedingt die Lyrik einen anderen Lakonismus des Sagens und der Pointierung auf knappem Raum, während epische Darstellung sich verweilend ausbreitet. Aus der bald schärfer akzentuierten, bald zurücktretenden Bindung der Aussage an die Perspektive eines Gedicht-Ich resultiert eine Durchdringung von Subjektivität und objektivierender Aussage, die das Erzählen Fontanes allenfalls zur Figuren- perspektive modifiziert kennt." Bedeutsamer aber erscheint in unserem Zusammenhang doch die überraschende Gemeinsamkeit gesellschafts- kritischer Intentionen. Diese machen eine wesentliche Dimension nicht nur des Romans, sondern auch der Lyrik Fontanes aus.
Vergegenwärtigen wir uns das noch eingehender am Beispiel des Zyklus „Aus der Gesellschaft“ (S. 34—39). Die Kritik ist darin teilweise wesentlich deutlicher und schärfer akzentuiert. Den Gedichten 1, 3 und 4 ist gemeinsam, daß sie das Gegeneinander von Persönlichem und Gesellschaftlichem thematisieren. Bei „Hoffest“ hat Freundschaft hinter der Darstellung der gesellschaftlichen Rollen zurückzustehen (S. 34 f.). Ähnlich sind Urlaubsbekanntschaften, die sich über das soziale Gefälle hinweggesetzt hatten — denn: „Gleichmacherisch wirkt die Badehose“ — bei offiziellem Anlaß rasch vergessen (S. 35 f.). Der vertrautere Alltagsumgang mit „Offiziellen“ weicht bei Beerdigungen einer steifen Repräsentation, die das soziale Gefälle hervorkehrt (S. 36 f.). Das alles sind nur Varianten jenes Span- nungsverhältnisses von Gesellschaft und Menschlichkeit, das Walter Müller-Seidel am Beispiel der Romane Fontanes aufgewiesen hat. 12 In anderen Gedichten dieses Zyklus äußert es sich als Unvereinbarkeit von opportunistischem Karrieredenken und Gesinnung, so in „Der Subalterne“ (S. 35), „Wie man's machen muß“ (S. 37 f.) und „Erfolganbeter“ (S. 38 f.). °as sieht zunächst nach einer ,Moralkritik‘ an Haltungen aus, die es zu allen Zeiten gegeben hat. Und doch zeigt allein schon etwa der Vergleich aalt dem Karrieredenken Innstettens in „Effi Briest“ oder mit dem gesellschaftlichen Aufstieg der Frau Jenny Treibei, daß es Fontane richtiger um die Kritik von Verhaltensnormen zu tun ist, die er in besonderer Weise
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