mit der Gründerzeit und der Gesellschaft des zweiten Kaiserreichs verbunden sieht. Im Gedicht „Neueste Väterweisheit“ (S. 66) unterstreicht schon der Titel den Zeitbezug. Kritisiert wird darin ein Verhalten, in dem sich Ellbogenmentalität, Großspurigkeit und Streben nach Reichtum die Hand reichen. Die Verse nähern sich dabei der Schärfe der Satire. Sie imitieren den Gestus väterlicher Gebote, demaskieren gerade in der ironischen Identifikation mit dem Kritisierten. Unter dem Schein der Bestätigung wird in Wahrheit eine radikale Abwertung betrieben. Es sind in ausgeprägter Weise Umwertungen, die hier und an anderer Stelle in der Lyrik faßbar werden. In „Arm oder reich“ (S. 71—73) scheint der Schriftsteller an einer verbreiteten Herrschaft des Kapitals teilhaben zu wollen, wenn er sein Faible für größte Reichtümer bekennt. Das schließ- liche Bekenntnis zur Armut scheint sich als resignative Hinnahme des real Möglichen zu verstehen. In Wahrheit hat das Gedicht die Fragwürdigkeit der Geldherrschaft längst bewußt gemacht und einen religiös verbrämten Imperialismus durch die eigene Adaption der imperialen Gebärde ad absurdum geführt: 13
Erst in der Höhe von Van der Bilt Seh’ ich mein Ideal gestillt:
Der Nil müßte durch ein Nil-Reich laufen,
China würd’ ich meistbietend verkaufen,
Einen Groß-Admiral würd’ ich morgen ernennen,
Der müßte die englische Flotte verbrennen,
Auf daß, Gott segne seine Hände,
Das Kattun-Christentum aus der Welt verschwände. (S. 73)
Das schließliche Bekenntnis zur Armut basiert auf einer Entscheidung, die die Dinge auf ihren wahren Wert hin befragt hat. Es ist das Ergebnis einer skeptischen Ausbalancierung des ,Für‘ und ,Wider', das den Dingen zukommt. Ganz ähnlich beobachten wir das in „Die Alten und die Jungen“ (S. 71). Das Ich dieses Gedichts ist gegenüber den Schwächen und Fragwürdigkeiten im Tun der „Jungen“ nicht blind. Noch weniger vermag es sich mit dem „am Ruderbleibenwollen“ der Alten zu identifizieren. Ein bemerkenswertes Zeugnis, das in Briefen und Romanen Fontanes seine deutliche Parallele hat: der altgewordene Dichter bekennt sich zu dem geschichtlichen Recht der Jugend. Die skeptische Konfrontation von Alter und Jugend, von Altem und Neuem, die schon der Titel ankündigt, trägt in dieses Gedicht etwas von jenem Bewußtsein der Zeitenwende, das in unmittelbarer zeitlicher Nachbarschaft auch zum zentralen Thema des „Stechlin“-Romans wird.
Die Wert- und Normenkonflikte, die sich in den zitierten Belegen abzeichnen, sind ein wichtiges Indiz intensiver Zeitbezogenheit. Und das aktive Moment darin verrät sich nicht zuletzt in der Art und Weise, wie die Gedichte das Recht von Umwertungen für sich in Anspruch nehmen. Da wird Etabliertes als fragwürdig angesehen. Im Urteil der Gesellschaft ,Hohes' erscheint als gering, Geringes als respektabel. Die kritische Absetzung macht dabei die eigene Standortbestimmung verständlich. Das Bekenntnis zum Kleinen und Geringen, das wir beobachteten, erweist sich
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