Heft 
(1985) 39
Seite
68
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bilden' zum Opfer fallen, als unbegründet zurück: ,Lene bildet sich gar nichts ein. Sie ist im vollsten Sinne des Begriffsrealistisch'.' Walter Müller-Seidel, der auch Lenes Illusionslosigkeit festhalten will, räumt dennoch ein, daß die Heldin mindestens uneingestandene Wünsche hegt:

Soviel steht fest: sie liebt Botho von ganzem Herzen. Keinerlei gesell­schaftliche Erwartungen, keine Einbildungen und kein gesellschaft­licher Ehrgeiz mischen sich ein. Weil sie sich in diesem Punkt keine Illusionen macht, meint sie berechtigt zu sein, ganz dem Augenblick zu leben (...) Aber indem sie meint, ganz dem Augenblick leben zu können, gerät ihre Liebe in das Zwielicht der Liebelei. Ihr Tun nähert sich, sowenig sie das will, der etwas fragwürdigenDemi- mondeschaft an, wie sie die Offiziersdamen auf ihre Weise prakti­zieren. Es ist daher nur folgerichtig, wenn Lene insgeheim dennoch die Dauer der Liebe erstrebt. Auch darin bleibt sie ihrem natürlichen Wesen, der Einfachheit und Wahrheit der Natur, treu . 2

Eine weitere Variante bietet Jost Schillemeit an, der einerseits behauptet, Lene habe jeden Anspruch auf dauerhaftes Glück fahren lassen, dann aber folgende Einschränkung geltend macht: .Einmal nur scheint es, als hätte sie, auf dem Gipfel des Glücks, die Grenze zwischen Traum und Wirklich­keit vergessen; während der letzten ungetrübten Stunden inHankeis Ablage '. 3 Frances Subiotto betont anfänglich das deutliche Bewußtsein der wirklichen Verhältnisse, das den Liebenden durch die stets drängende Macht der Erinnerung gegeben wird: ,Die Gesellschaft wird im ersten Teil des Romans nie vergessen (...) Keiner der Liebenden verfällt der Illusion, daß sie eine gemeinsame Zukunft vor sich haben, und sogar Botho, der noch weniger Realist als Lene ist, weiß, daß die Ehe für sie gar nicht in Frage kommt '. 4 Aber Subiottos Meinung, das Vergessen werde weder Lene noch Botho jemals gestattet, stimmt nicht mit der Ansicht überein, daß in der zweiten Hälfte des Romans ein jähes Erwachen' auf sie zukomme. In dieser sonst sehr verdienstvollen Studie wird nicht deutlich gemacht, ob die Liebenden in der ersten Hälfte des Romans (der, ,wo er glücklich ist. tatsächlich einem Traum gleicht') diesen Traum je für realisierbar halten oder ob das durchweg durch die .Erinnerung an den wachenden Zustand, an die tatsächliche Wirklichkeit ihrer Lage' verhindert werde.

In der neuesten englischen Studie zu Fontanes Romanwerk stellt Alan Bance die Frage von .Vorstellung und Wirklichkeit' in den Vordergrund seiner Überlegungen, aber es gelingt ihm meines Erachtens nicht, die Probleme zu beseitigen, die durch die eher gelegentlichen Bemerkungen anderer Kritiker aufgeworfen wurden. Wie McHaffie meint Bance, Frau Dörr unterliege einer .vollkommen unbegründeten Besorgnis', indem sie Lene vor den Gefahren des ,Einbildens' warne. Nach seiner Ansicht .ver­mag LeneTraum undWirklichkeit deutlich voneinander abzugrenzen', ü eine Ansicht, die er durch die vielzitierten Worte Lenes bestätigt sieht: .Wenn man schön geträumt hat, so muß man Gott dafür danken und darf nicht klagen, daß der Traum aufhört und die Wirklichkeit wieder anfängt'. Lene, so fährt Bance fort, .sucht das Poetische nicht (...) da sie in ihrem Wesen poetisch ist '. 7 Wenn aber Lene bekennt, sie habe geträumt, und zwar