Heft 
(1985) 39
Seite
69
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gerne, so muß man akzeptieren, daß sie wenigstens ein Bedürfnis nach dem, Poetischen hat; ob sie das Poetische aktiv aufsucht, kann dahingestellt bleiben. Bances Interpretation birgt eine weitere Schwierigkeit: indem er behauptet, es liege nicht in Lenes Wesen, Traum und Wirklichkeit je zu verwechseln, verleiht Bance ihrem Charakter nicht nur eine einzigartige, sondern auch eine eigenartige, bevorzugte Stellung innerhalb des Romans. Laut Bances eigener Interpretation gehörte es zu Fontanes Absichten, eine .Verwirrung der Kategorien zu bewirken, um dadurch ,den Ton des Lebens selbst wiederzugeben, das uns selten mit einfachen Alternativen konfron­tiere. 5 Aber wenn Lene sich niemals verwirren läßt, muß sie mit einem geradezu engelhaften Bewußtsein ausgestattet sein, das der sonst im Roman herrschenden Regel subjektiver Fehlbarkeit und Relativität (,die Dinge sind das, wofür wir sie halten) 9 zuwiderläuft. Um Lenes Sonderstellung zu unterstreichen, legt Bance (wie Müller-Seidel vor ihm) großes Gewicht auf die Unbestimmtheit von Lenes Herkunft, auf ihren Mangel an irgend­welcher Erbschaft und somit, im Unterschied zu Botho, auf ihre Freiheit von geerbten sozialen Zwängen: .Lene ist einfach natürlich. Selbst ihr Sprachstil läßt erkennen, daß sie zu einer vor-industriellen Welt gehört. lu Diese Ansicht von Lene als Vertreterin der noch heilen Natur inmitten einer verstädterten Zivilisation mag zwar die Sonderstellung ihres unver- wirrbaren Bewußtseinserklären, tut dies aber auf Kosten ihrer Glaub­würdigkeit als einer nach dem Leben gezeichneten Figur. Überdies vertritt Bance selber diese Ansicht nicht konsequent, denn später interpretiert er Lenes Verhalten im Lichte der Erfahrungen, die sie als Mädchen aus der niederen Sphäre der Gesellschaft gewonnen habe. Jedoch, wenn die konkreten gesellschaftlichen Verhältnisse überhaupt als bewußtseinsbil­dende Macht anerkannt werden, sollte man auch erwägen, ob oder wenigstens inwiefern der so oft beschworene Begriff derNatürlichkeit Lenes Charakter angemessen erfaßt. Unter anderem will die folgende Untersuchung des von Fontane sorgfältig durchgeführten Motivs der Ein­bildung eine Antwort auf diese Frage bieten.

Während eines Gesprächs im Klub macht der Offizier Serge eine Bemer­kung, in der man eine Ansicht des Verfassers selbst zu erkennen geglaubt hat: ,Alle Genüsse sind schließlich Einbildung, und wer die beste Phantasie hat, hat den größten Genuß. Nur das Unwirkliche macht den Wert und ist eigentlich das einzig Reale (III, 131). Es wäre aber für Fontane höchst uncharakteristisch, eine einzige Meinung, und sei sie ihm auch noch so teuer, in einem Roman ganz unangefochten oder uneingeschränkt zur Geltung kommen zu lassen. Tatsächlich sind beide Formen der Relativie­rung auch in diesem Fall am Werk. Zum einen trägt Serges ästhetisierende Attitüde deutlich den Stempel des gelangweilten genußsüchtigen Lebens, das er mit seinen Offiziersbrüdern (unter denen Botho nur in beschränktem Maße eine Ausnahme darstellt) teilt. 11 Des weiteren wird Serges Bemerkung durch die Tatsache relativiert, daß der Wert der Einbildung schon früher im Roman zur Sprache gebracht worden ist, und zwar von einer Figur, die eine diametral entgegengesetzte Ansicht der Sache vertritt. Frau Dörr, Lenesmütterliche Freundin, verbindet die Einbildung nicht mit Genuß, sondern mit Pein schon im ersten Kapitel des Romans: ,Q du meine Güte,