denn is es schlimm. Immer wenn das Einbilden anfängt, fängt auch das Schlimme an. Das is wie Amen in der Kirche* (III, 96). Ein wenig später, in einem Stück hausbackenen Philosophierens, das den komischen Widerpart zu Serges blasierten Bemerkungen bildet, predigt Frau Dörr gegen die Einbildung als eine Art von leerem Luxus: ,Ebenso wie mit’n Blumenkohl; immer Blume, Blume, die reine Einbildung. Der Strunk is eigentlich das Beste, da sitzt die Kraft drin. Und die Kraft ist immer die Hauptsache* (III, 103). Das Motiv der Kraft integriert diese Bemerkung Frau Dörrs weiter in den Roman, indem es Beziehungen zu anderen Aussagen stiftet, die auf ähnliche Weise vor allem Bothos Wert als Liebhaber in Frage stellen. In diesem Sinne muß Lene konstatieren: ,Alle schönen Männer sind schwach* (III, 118); den gleichen, obwohl versteckteren Bezugspunkt haben Herrn Dörrs resignierte Worte über seinen Lieblingshahn mit dem Silbergefieder: ,Jott, so’n Hahn. Denkt nu auch wunder, was er is. Un seine Courage is doch auch man so so* (III, 101). Das besagt aber nicht, daß Frau Dörr in der Wertfrage einfach reellt behält. Obwohl gütig, wird Frau Dörr ausdrücklich als Person von beschränktem Verstand charakterisiert (III, 96). Und auch wenn ihre Behauptung begründet wäre, daß der Strunk des Blumenkohls nahrhafter als die Blume ist, bleibt das Problem, daß die Blume dem Gaumen wie dem Auge meist besser gefällt. So bleibt doch der Silberhahn Herrn Dörrs Stolz, und Botho Lenes „Bester“, und zwar wegen ihrer „eingebildeten“ Werte und trotz allen Wissens um ihre Fehler. Die Einbildung erhebt offenbar Ansprüche, die nicht einfach aus der Welt zu schaffen sind, indem man auf andere, heilsamere Tugenden verweist. Frau Dörrs kleine Predigt wird ferner durch die Tatsache relativiert, daß sie selber die eigenen Weisungen nicht befolgt. Kurz nachdem sie im Anfangskapitel sich über die Torheit des Einbildens ausgelassen hat, ergeht sie sich selber im Phantasieren, indem sie den Konflikt zwischen ihrer Sympathie für das Verhältnis zwischen Lene und Botho und ihrer Angst vor dem schmerzvollen Ende des Verhältnisses dadurch zu lösen versucht, daß sie der Vorstellung nachhängt, Lene könnte am Ende von adliger Herkunft sein: ,Oder vielleicht is es nich so schlimm; Sie haben sie ja bloß angenommen und is nich Ihr eigen Fleisch und Blut, un vielleicht is es eine Prinzessin oder so was* (III, 97). Früher hatte sie behauptet, insofern glücklich gewesen zu sein, als die Einbildung bei ihrem einstigen Verhältnis zu einem Aristokraten gar keine Rolle spielte: ,Sehen Sie, liebe Frau Nimptsch, mit mir war es ja eigentlich ebenso; man bloß nichts von Einbildung. Und bloß darum, war es auch wieder ganz anders* (III, 96). Aber wenn sie sieht, wie keusch sich Lene und Botho am Gartentor verabschieden, ist sie vom Anblick bezaubert, und vergleicht die eigenen, recht derben Erlebnisse ungünstig mit dem, was sie jetzt vor sich sieht: ,Nei, nei, er grüßt bloß noch mal, und sie wirft ihm Kußfinger zu ... Ja, das glaub ich; so was laß ich mir gefallen ... Nei, so war meiner nich* (III, 98). Was aus dieser komplexen, relativierenden Erzählweise hervorgeht, ist nicht etwa die Behauptung, daß das Einbilden einfach gut oder schlecht sei, sondern die, daß es ein wichtiges, allgemein verbreitetes Element der menschlichen Welterfahrung darstelle, das aber je nach der ganzen Lebensweise eines Individuums sehr verschieden bewertet werde. Während der
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