Heft 
(1985) 39
Seite
71
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Offizier Serge die Einbildung als ein zu entwickelndes Vermögen betrachten darf, ist sie für Frau Dörr eine Macht, die, obwohl verführerisch, eher zu fürchten ist.

Es scheint, daß Frau Dörr mit ihren Bemerkungen über den Blumenkohl eigentlich etwas anderes auf Umwegen ansteuerte. Als sich das Gespräch endlich zum unvermeidlichen Thema des Verhältnisses zwischen Lene und Botho wendet, bringt Frau Dörr ihr eigentliches Anliegen zur Sprache: ,Un natürlich, was denn kommt, das muß man aushalten und darf sich nicht wundern. Un wenn man all so was weiß und sich immer wieder zu Gemüte führt, na, denn is es nich so schlimm. Und schlimm is eigentlich man bloß das Einbilden (III, 106). Diese Warnung bezieht sich spezifisch auf die gesellschaftlichen, genauer auf die Klassenverhältnisse. Was Frau Dörr sagen will, ist, daß Lene, als Mädchen aus den arbeitenden Klassen, sich niemals vorstellen darf, ein Verhältnis zu einem Mann aus der Ober­sphäre der Gesellschaft könnte von Dauer sein, geschweige denn zur Ehe führen. Lene versteht ganz genau, was gemeint ist, und beteuert, Frau Dörr brauche sich keine weiteren Sorgen darüber zu machen:

Ach, liebe Frau Dörr, lacht Lene,was Sie nur denken. Einbilden! Ich bilde mir gar nichts ein. Wenn ich einen liebe, dann lieb ich ihn. Und das ist mir genug. Und will weiter gar nichts von ihm, nichts, gar nichts; und das mir mein Herze so schlägt, und ich die Stunden zähle, bis er kommt, und nicht abwarten kann, bis er wieder da ist, das macht mich glücklich, das ist mir genug. (III, 106)

Diese Worte Lenes werden oft zitiert und für bare Münze genommen. Das fällt mir schwer. Selbst die Emphase ihrer Beteuerungen,nichts mehr von Botho zu erwarten, legt den Verdacht nahe: ,Die Dame, wie mich dünkt, gelobt zu viel. Lenes heftige Abwehr wird auch dadurch in Frage gestellt, daß ihre Pflegemutter, vor deren Weisheit Lene selbst großen Respekt hat, Lenes Verständnis der eigenen Gefühle in dieser Sache be­zweifelt: ,Ja, wie soll es stehen? Ich glaube, sie denkt so was, wenn sies auch nicht wahrhaben will, und bildet sich was ein (III, 96).

Mutter Nimptschens resignierte Frage ,Ja, wie soll es stehen? bringt ihr Gefühl zum Ausdruck, daß das, was jetzt mit Lene passiert, eben unver­meidlich ist. Ihre Worte sind eine Aussage über das menschliche Herz und über dessen natürlichen Wunsch nach der Fortdauer einer so liebevollen Beziehung wie der zwischen Botho und Lene. Darüber hinaus betreffen ihre Worte die besonderen Gründe, wajjum ein Mädchen in Lenes Lage vor allem an den Fortbestand des Verhältnisses zu glauben geneigt sein wild. Diese Gründe werden durch die Darstellung von Lenes normalem, alltäg­lichem Dasein angegeben. Wenn Bothos väterliches Erbgut ein bedeutsames Zeichen für die gesellschaftliche Prägung seines Selbst ist, so sind bei Lene nicht weniger das Fehlen eines solchen Erbteils und die daraus sich ergebende Notwendigkeit bedeutsam, ihren Lebensunterhalt durch un­scheinbare, langweilige, oft unbequeme Arbeit zu verdienen. Das Beengende dieses Arbeiterdaseins wird durch den Wechsel in Lenes Verhalten heraus­gestellt, als sie der Berliner Vorstadt auf kurze Zeit entkommt: