Heft 
(1985) 39
Seite
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Botho freute sich, Lene so glücklich zu sehen. Etwas Entschlossenes und beinahe Herbes, das sonst in ihrem Charakter lag, war wie von ihr genommen und einer ihr sonst fremden Gefühlsweichheit gewichen, und dieser Wechsel schien ihr selber unendlich wohl zu tun. (III, 144)

Karl Marx zitierte einmal eine ähnliche Beschreibung aus dem Leben einer französischen Prostituierten als Beleg für die menschliche Selbstentfrem­dung, die durch die konkreten Lebensverhältnisse in der Klassengesellschaft verursacht wird. 12 Man braucht nicht Fontane in einen Marxisten umzu­krempeln, um zu erkennen, daß er hier eine ähnliche Aussage über die psychologischen Folgen von Lenes Lebensweise macht. Unter normalen Umständen kann sie es sich einfach nicht leisten, ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen, da jede ,Gefühlsweichheit einen zu scharfen Konflikt aus- lösen möchte zwischen ihren persönlichen Bedürfnissen und den Entbeh­rungen, die mit ihrer sozialen Rolle einhergehen. Die Regel ist also, daß sie ihre Gefühle unter strenger Kontrolle behält, um sie hinter dem Panzer anscheinender emotioneller Herbheit zu schützen. Sie übersteht ihr ent­behrungsvolles Leben vermittels seelischer Verdrängung. Daß dies ihr tägliches Los ist, darf man nicht vergessen, will man verstehen, wie teuer die Beziehung zu Botho für sie wird. Ihre eigenen Worte darüber, daheim in der Vorstadt ausgesprochen, müssen ihre Gefühle zugleich verbergen, indem sie sie enthüllen: ,Gott, man freut sich doch, wenn man mal was erlebt. Es ist oft so einsam hier draußen' (III, 106).

Lene liebt Botho wegen seiner Persönlichkeit, wegen seines guten Aus­sehens und wegen seiner Liebe zu ihr. Aber selbst solche Liebe existiert nicht in einem Vakuum, und Bothos Anziehungskraft beruht zum Teil auch auf seiner gesellschaftlichen Stellung. 13 Seine Manieren, sein Stil, seine Haltung weisen alle auf die Vorzüge einer privilegierten Erziehung und Stellung hin. Und so sehr Lene eine .kleine Demokratin' sein mag, es macht doch ihren Stolz aus, die Neigung eines so hochgestellten Mannes gewonnen zu haben, und sie sehnt sich danach, mit ihrer Eroberung vor aller Welt zu renommieren, und sei es nur durch eine Promenade im öffentlichen Park, wo alle legitimen Verhältnisse zur Schau gestellt werden dürfen:

Weißt du, Botho, wenn ich dich nun so nehmen und mit dir die Lästerallee drüben auf- und abschreiten könnte, so sicher wie hier zwischen den Buchsbaumrabatten, und könnte jedem sagen, ,Ja, , wundert euch nur, er ist er und ich bin ich, und er liebt mich und ich j liebe ihn', - ja, Botho, was glaubst du wohl, was ich dafür gäbe? : Aber rate nicht, du rätest es doch nicht. Ihr kennt ja nur euch und euren Klub und euer Leben. Ach, das arme bißchen Leben. (III, 118)

Nicht nur zeigt diese Rede Lenes ganz verständlichen Ärger über die gesellschaftlichen Unterschiede, sondern auch, wie sie in der Einbildung für das ihr von der Gesellschaft angetane Unrecht Entschädigung sucht. Lenes Ärger zeigt auch, daß sie sich von eben jener Sphäre angezogen fühlt, aus der sie ausgeschlossen ist. Aus einem ihrer Briefe an Botho geht auch hervor, wie sehr sein gesellschaftlicher Rang zu ihrem Stolz über ihn beiträgt:

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