Heft 
(1985) 39
Seite
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ich habe Dich gesehen, gestern, aber heimlich, verstohlen, auf dem Korso. Denke Dir, ich war auch da, natürlich weit zurück in einer Seiten-Alleh, und habe Dich eine Stunde lang auf- und abreiten sehen. Ach ich freute mich über die Maßen, denn Du warst der statt­lichste (...) und ich hatte solchen Stolz Dich zu sehen, daß ich nicht einmal eifersüchtig wurde. Nur einmal kam es. Wer war denn die schöne Blondine mit den zwei Schimmeln, die ganz in einer Blumen­girrlande gingen. (III, 12021)

Lenes Wunsch, in Bothos Welt aufgenommen zu werden, darf nie offen gestanden werden, weder gegenüber Botho noch gegenüber sich selbst. Statt dessen kommt er per contrarium zum Ausdruck, wenn sie zum Beispiel sagt,ich kann mir eigentlich keine Vorstellung machen, wie man mit so vielen fremden Damen (und ihr kennt euch doch nicht alle) so gleich mir nichts, dir nichts ein Gespräch anfangen kann (III, 110). Botho ist nur allzu bereit, ihr zu einem Verständnis der Lebensweise seiner Kreise zu verhelfen:denke dir, also, du wärst eine kleine Gräfin. Und eben hab ich dich zu Tisch geführt und Platz genommen, und nun sind wir beim ersten Löffel Suppe (III, 110). Hier, noch deutlicher als in Lenes Rede über einen Spaziergang im Park, sieht man, wie die Einbildungskraft in Dienst gestellt wird, um eine Brücke zu bauen, die von dem wirklichen Erlebnis sozialer Getrenntheit zum erwünschten Zustand legitimen Zusammenseins in Bothos Welt führt. Das imaginäre Tischgespräch zwischen Baron Botho und der ,Gräfin* Lene gehört zu einer Reihe von kleinen Phantasien, die die gesellschaftliche Distanz zwischen den Liebenden aufheben, entweder indem sie soziale Gleichrangigkeit vorspiegeln, oder Lene den nötigen Rang erwerben lassen, um in Bothos Welt eintreten zu dürfen. Dazu borgen die Liebenden sich Rollen aus Märchen aus, welche wirkliche Wünsche zum Ausdruck bringen, trotzdem sie ironisch-spielerisch zitiert werden. Wenn Frau Dörr sich darüber aufregt, daß Botho etwas von ,der großen Herren- und Damenfete* mitgebracht hat, verrät er die Rolle, die er jetzt eigentlich spielen möchte, indem er antwortet,Nun, da will ich nicht lange warten lassen, sonst denkt meine liebe Frau Dörr am Ende, daß es ein goldener Pantoffel ist oder sonst was aus dem Märchen (III, 109). Es scheint nicht unwahrscheinlich, daß die Wahl auf die Farbe .aschblond* für Lenes Haar fiel, weil sie die Rolle des Aschenputtels hat. In ,Hankeis Ablage ist es wohl der gleiche Wunsch nach dem glücklichen Ende des Märchens, der Botho dazu führt, sich Lene als Dornröschen vorzustellen:Lene, noch auf! Ich dachte, daß ich dich mit einem Kusse wecken müßte (III, 155). Die trau­rige Travestie von all dem kommt, als die anderen Offiziere sich bei der Jungfrau von Orleans Rollen ausleihen, um die gesellschaftliche und geschlechtliche Wirklichkeit vorübergehend zu verdecken, die ihrem Tän­deln mit einigen Frauen aus den niederen Klassen zugrundeliegt, und dazu noch Botho und Lene in ihr Spiel verwickeln.

Die Versuchung, die Dinge mit den Augen der Phantasie zu betrachten, ist für Lene ebenso groß wie.für Botho, ja vielleicht noch größer. An einem Abend mit Botho in Dörrs Garten stehend, läßt Lene sich gerne von der Märchenatmosphäre tragen:

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