Heft 
(1985) 39
Seite
76
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Lenes Fähigkeit zu rationaler Selbstbeherrschung erlaubt ihr sogar, ohne allzugroße Beunruhigung die Nachricht von Bothos Heirat mit Käthe ent­gegenzunehmen, als sie in einem Zeitungsausschnitt davon liest. Jedoch, wenn sie Botho eines Tages zufällig sieht, wie er mit seiner Frau lachend und redend und scheinbar sehr glücklich die Straße herunterkommt, versagt Lenes Selbstkontrolle auf einmal. Ihr Zusammenbruch ist umso gefähr­licher, weil er so lange verweigert wurde. Angesichts dieses fast tödlichen Schocks kann man wohl nicht behaupten, daß Lenes allzu vernünftige Worte über die Notwendigkeit, Traum und Wirklichkeit säuberlich zu trennen und sich nichts einzubilden, die volle Wahrheit über ihren see­lischen Zustand darstellten. Wenn Botho und Käthe ihr entgegengehen, scheinbar die Verkörperung des jungen Eheglücks, wird Lene mit einem Bild konfrontiert, das unvermeidlich an ihren früheren Traum erinnert, mit Botho in der Öffentlichkeit Spazierengehen zu dürfen aber nur, um ihr grausam und endgültig die Unerreichbarkeit ihres Wunsches zu beweisen. Die Grausamkeit wird dadurch erhöht, daß sie jetzt in Käthe jene ,schöne Blondine 1 wiedererkennt, mit der sie Botho auf dem Korso sprechen sah zu einer Zeit, als sie sich einbildete, er sei ihr allein treu. Es ist, als ob Lene nicht nur ihres Traumes davon beraubt werde, was aus ihrem Leben hätte werden können,, sondern selbst ihrer Vorstellung, zumindest in der Vergangenheit Bothos ganze Liebe besessen zu haben. Bis zu diesem Zeitpunkt hat sie die Unvereinbarkeit von Traum und Wirk­lichkeit mit dem Gehirn, nicht aber mit dem Herzen begriffen. Wieder verwendet Fontane die Bildlichkeit von Sehen und Nicht-Sehen, um diese Episode mit früheren zu verbinden, in denen es gleichermaßen um die Spannung zwischen innerer und äußerer Wirklichkeit ging. Lene muß den verheirateten Botho wortwörtlich sehen, um die Tatsache seines Ver­heiratetseins richtig zu erfassen. Nachdem Botho und Käthe weitergegangen sind (während dessen Lene die banalen Gegenstände im Fenster eines Kolonialwarenladens, ohne sie zu sehen, angestarrt hat), setzt auch Lene ihren Spaziergang fort, aber nun ist ihr Gang wie der einer Blinden: ,Sie tappte sich vorsichtig an den Häusern hin, und eine kurze Strecke ging es' (III, 180). Bald fällt sie aber in einer Ohnmacht hin, und selbst nachdem sie wieder zu sich gekommen ist, nehmen ihre Augen die äußere Welt kaum auf: ,Aber sie sah und hörte nicht oder war wenigstens ohne Bewußt­sein dessen, was um sie her vorging 1 (III, 181). Stillschweigend ist es das Bild der glücklichen Käthe und Botho, das Lene für ihre Umwelt blind macht, und es ist ihre Unfähigkeit, dieses Bild an die Stelle von inneren, ihr lieberen zu setzen, die zum Aussetzen ihres Bewußtseins und ihrer Selbstbeherrschung führt. Selbst die ,alberne 1 Käthe weiß, daß Vorstel­lungen .mächtig 1 sind; das Ausmaß ihrer Macht, so läßt das Schicksal Lene erkennen, wird aber erst recht deutlich, wenn das unterirdische Leben eines verdrängten Wunsches oder Traumes plötzlich mit der Gegenmacht der äußeren Welt in Konflikt gerät.

Der Widerstand der Phantasie gegen ihre Unterdrückung wird auch im Falle Bothos deutlich. Er findet, daß das Bild der Lene sein Innenleben noch lange nach seiner Heirat immer wieder beherrscht: ,Lene mit ihrer Einfachheit, V ahrheit und Unredensartlichkeit stand ihm öfters vor der