Seele, schwand aber ebenso rasch wieder hin“ (III, 183). Nachdem der Besuch bei Frau Nimptschens Grab ihm Anlaß gegeben hat, seine Zeit mit Lene im Geist wieder zu durchleben, hält er es für nötig, ihr Bild ein für allemal aus seinem Leben zu vertreiben, indem er ihre Briefe und, noch wichtiger, den mit ihrem Haar verbundenen Blumenstrauß verbrennt. Durch dieses Ritual will er gleichsam das frühere Ritual, in dem er den Strauß erhielt, rückgängig machen. Seine Unfähigkeit, sich dadurch zu befreien (,Alles Asche. Und doch gebunden“), gibt beredtes Zeugnis von der Macht, die von der Welt der Phantasie ausgeübt wird: ,Ja, es gibt solche rätselhaften Kräfte, solche Sympathien aus Himmel oder Hölle, und nun bin ich gebunden und kann nicht los“ (III, 215). Das Fehlschlagen seines Versuches, die Geister auszutreiben, rechtfertigt die alte, abergläubische Weisheit des Sprichworts (,Haar bindet“) gegenüber der vernünftigen Skepsis der Moderne. Zugleich läßt Fontane als moderner Schriftsteller Botho den psychologischen Grund erkennen, warum das Sprichwort in seinem Falle seine Gültigkeit behält: ,Ob ich nun frei bin?... Will ich’s denn? Ich will es nicht'.
Bothos Anerkennung der Wahrheit des Aberglaubens ist nicht der einzige Hinweis im Roman, daß auch Fontane das Phantastische nicht als einen Bereich betrachtet, der im Namen der Wirklichkeit abgewertet werden sollte, sondern vielmehr als ein Element der Wirklichkeit, das unseren vollen Respekt verlangt. Die einleitende Beschreibung der Gärtnerei, die den Hintergrund für die Liebesgeschichte abgeben soll, erhebt keinen Anspruch darauf, eine unbeteiligte Wiedergabe des empirisch Feststellbaren zu sein. Vielmehr beschwört Fontane die .halbmärchenhafte Stille“ des Ortes herauf und wendet liebevolle Aufmerksamkeit auf die Einzelheiten des baufälligen ,Schlosses“, das er für ,die recht eigentliche Hauptsache“ der ganzen Gärtnerei hält; am wichtigsten für ihn ist nicht die Prosa, sondern die Poesie dieses Stücks Wirklichkeit. Trotz ihrer Baufälligkeit, trotz der Tatsache, daß sie bald in der Flut der Modernisierung untergehen wird, hält Fontane offenbar diese Erinnerung an die Märchenwelt (,Denn ein Schloß is und bleibt es“ - III, 96) für das passende Emblem der Liebe von Lene und Botho. Mit anderen Worten, nicht nur Lene und Botho brauchen das Poetische; ihr Schöpfer teilt ihr Bedürfnis danach. Fontane sucht das Poetische, weil er nicht nur die Tatsachen des historischen Wandels registrieren will, sondern auch die menschlichen Opfer der großen geschichtlichen Prozesse. Er interessiert sich nicht nur für das, was ist, sondern auch für das, was sein könnte oder sein sollte. Beide Liebenden, besonders aber Lene, haben ein Bedürfnis nach Traum oder Phantasie, weil die Einbildung die einzige Möglichkeit bietet, Wünsche zu entladen, die in einem solchen Gegensatz zu der gesellschaftlich sanktionierten .Wirklichkeit“ stehen, daß sie niedergehalten oder verdrängt werden müssen. Lenes Geschichte, an sich schon traurig genug als Beispiel eines geschädigten Lebens, erhält dadurch eine tragische Qualität, 15 daß die von der Gesellschaft verlangte kühle und selbstbeherrschte Unterscheidung von Traum und Wirklichkeit die Wünsche nicht einfach austilgen kann, die in der Einbildung ihren Ausdruck suchen, da diese Wünsche und Vorstellungen einer Wirklichkeit entsprechen, die ebenso mächtig, ebenso überzeugend wirkt, wie jene,
77