Heft 
(1890) 45
Seite
759
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als wenn es von ihm zurücktreten wollte, aber dann bezwang es ? sich und sagte sehr ernst:

Betest Du denn auch viel zum lieben Gott, daß er Dich in seinen Himmel hineinnimmt?"

Ein bitteres Lächeln verzog die Züge des Gefangenen.

Von so bösen Sündern, wie ich einer bin, will Dein lieber Gott gar nichts wissen, mein kleines Mädchen."

Furchtlos, mit leuchtendem Blick, sah ihm das Kind von neuem ins Gesicht.

Dann weißt Du nichts von ihm und kennst ihn gar nicht, wenn Du das sagen kannst! Liest Du denn nie in der Bibel? Da steht von sovielen Bösen, die alle schwere Sünden gethan haben, und der liebe Gott hat ihnen doch verziehen und sie alle, alle in den Himmel genommen. Und wenn unser Herr Prediger Dir verziehen hat verziehen muß er Dir haben, hätte er Dir sonst all' die Blumen geschenkt? wie soll Dir unser Gott nicht verzeihen, der tausendmal besser und schöner ist als alle Menschen auf der Welt zusammen? Siehst Du wohl, jetzt thut es Dir leid!"

Gretchen war allmählich in Eifer gerathen, und tausendmal beredter als ihre Worte sprachen ihre Augen, ans denen die heiligste, unerschütterlichste Ueberzeugung redete,' die nur aus einem gläubigen Kinderherzen kommen kann. Und als sie nun sah, wie der Mann vor ihr fahl im Gesicht wurde und sein Mund zu zucken begann, da hatte sie triumphirend geschlossen: Siehst Du wohl, jetzt thut es Dir leid!"

Ja, es that ihm leid! Das blonde Kind vor ihm, das mit seinem klaren Sümmchen ans seinem kleinen, einfältigen Herzen heraus so eindringlich zu ihm sprach, und der Blumenduft, der ihn sanft umschmeichelte, der Sonnenstrahl, der warm und golden durch das Fenster sah, rüttelten au seiner Seele. Oeffneten sich nicht dort die Blumenkelche, und stiegen aus ihnen nicht Traum­gestalten auf, die er lange, lange für immer begraben wähnte? Fromme Wünsche und gute Vorsätze aus Kindertagen, ach, und fernes, fernes Kircheuglvckengeläut' und liebe, halbvergessene Ge­sichter, und endlich die Gestalt, die Stimme, die er nicht hätte von sich bannen können, ob er's auch noch so ernstlich gewollt, die Gestalt und Stimme des Mannes, den er mit Spott und Hohn von sich gewiesen und der kein hartes Wort für ihn zur Erwiderung gefunden, der ihm Bücher geschickt und Blumen und ihn voll tiefen Erbarmens angesehen hatte aus seinen schönen, mitleidigen Augen! Es konnte diesem Prediger doch gleichgültig sein, was am Ende mit der sündigen Seele eines Verworfenen geschah, aber es war ihm nicht gleichgültig. Der Verbrecher hatte es gefühlt, nein, gewußt, vom ersten Augenblick an: aus diesen! Manne sprach nicht der berufsmäßige Eifer des Priesters, der seinem Namen mit der Bekehrung eines Sünders Ehre machen will . . . der Geist der Liebe sprach aus ihm, der alle kennt und alle umfaßt, ob sie sich ihm noch so störrisch entziehen, das feste, unerschütterliche Gottverträuen, das da spricht:Ich lasse Dich nicht, Du segnest mich denn!"

Als der Schließer Remmler sich von dem andern Gefangenen, der über Fieber und Lungenstiche geklagt und den Gefängnißarzt verlangt hatte, endlich frei machen konnte und die Zelle Schön­felds wieder betrat, bot sich ihm ein überraschender Anblick. Der zum Tode verurtheilte Verbrecher hielt Gretcheu im Arni, und das Kind schmiegte seinen blonden Kopf so zutraulich au ihn, als läge es an seiner Mutter Brust. Als der Vater hereintrat, hob sie ihr Gesichtchen zu ihm empor und sagte ruhig und freundlich:

Väterchen, dieser hier will so gern unseru Herrn Prediger haben! Darf ich hingehen und ihn holen?"

11 .

Frau Agathe Lamprecht trat, etwa zwei Stunden nachdem Nnnie ihren Ausflug nach Heinrichslust unternommen hatte, in Theklas Zimmer, in welchem die Besitzerin dieses Zimmers saß und so vertieft in LessingsErziehung des Menschengeschlechtes" war, daß sie gar nicht auf die Eiutreteude acht gab.

Agathe war nicht gewillt, wie sonst manchmal, wenn das gelehrte Fräulein in seine Studien vertieft war, geräuschlos und rücksichtsvoll davonzuschleichen. Die Dame sollte durchaus sehen, was sie Agathe Lamprecht in der Hand trug, und mit ihr Meinungen austauschen, von wem es kommen und was es wohl bedeuten könnte; der alten Getreuen war das Herz übervoll, das

Vögelchen" war ausgeflogen, ihrAlter" hatte so wenig Ver- ständniß für zarte Angelegenheiten, . . . Thekla mußte herhalten, das stand fest, ganz fest!

Der gute Hausgeist räusperte sich bescheiden, es half nichts! DieErziehung des Menschengeschlechtes" hatte die auf­merksame Leserin in ihre Fesseln geschlagen und ließ sie nicht los. Ein zweites Hüsteln, weit bedeutsamer und nachdrücklicher, wurde laut. Thekla blickte mit zusammengezogeneu Brauen empor, aber ihre Miene erheiterte sich, als sie das lebende Bild gewahrte, welches sich ihr bot: die alte Agathe, die in der rechten Hand, weit von sich gestreckt, als wenn sie sich damit zu verletzen fürchtete, einen großen, herrlichen runden Blumenstrauß hielt, von einer kost baren gestickten Spitze umgeben und unten von einer sehr breiten Moireschärpe von zartestem Rosa zusammengehalten. In Ver­ändern Hmch hielt sie einen Brief mit vorsichtig gespitzten Fingern, als wäre er ein feuergefährlicher Gegenstand.

Wie sehen Sie denn aus?" lächelte Thekla und legte den Lessing fort.Wie ein verblüffter Hochzeitsbitter weiblichen Ge­schlechts. Was soll denn das?"

Ein Lvhndiener hat's gebracht, ein fremder. Für unser Anniechen!"- Agathe vermochte in ihrer Erregung nur in ab­gebrochenen Sätzen zu sprechen und flüsterte so gepreßt, als wenn sie das größte Staatsgeheimnis; verriethe.Was soll ich nun bloß thun, Fräulein Thekla?"

Thun? Dem Menschen ein Trinkgeld geben."

Das Hab' ich ja schon gethan"

Dann den Strauß in eine Vase setzen nicht so nahe dort aufs Fenster und ruhig abwarteu."

Diese kaltblütige Auffassung war keineswegs nach Agathens Sinn.

Aber nun der Brief?"

Den legen Sie säuberlich daneben so!"

Ach Gott, Fräulein Thekla, von wem kann er sein? Passen Sie auf, jetzt nehmen sie uns bald unser Vögelchen weg!"

Kann schon sein!" Thekla unterdrückte einen Seufzer. Das ist ja aber nicht das erste Mal, daß wir so etwas" sie winkte mit den Augen nach dem Fenster hin -ins Hans bekommen!"

Das nicht, aber ich weiß auch nicht, - - mir kommt es so vor, als wenn das Vögelchen selber Lust hätte, auszusliegeu. Wär's denn auch ein Wunder? Ihre Mutter, die war noch kaum so alt, da wußte sie schon, wen sie haben wollte, und wenn ich mir die drei Herren von gestern bedenke, . . . Fräulein Thekla, auf welchen von den dreien haben Sie Verdacht?"

Die Gefragte mußte wieder lächeln.

Seien Sie doch kein solch' altes Fragezeichen, Agathe! Können Sie es denn nicht ruhig abwarteu?"

Nein, das kann ich nicht! Wie soll es mir einerlei sein, wen mein Anniechen zum Manu nimmt! Gott, Gott, mir drückt es das Herz ab! Wollen Sie sich nicht den Brief noch einmal an sehen, Fräulein, ob Sie vielleicht die Handschrift kennen? Soll ich ihn reichen?"

Nein, das lassen Sie bleiben! Man erfährt das alles zeitig genug!"

Wenn ich nicht wüßte, Fräulein Thekla hätten ebensogut j ein Herz wie jeder andere gewöhnliche Mensch, daun müßt' ich ! jetzt daran zweifeln! Wer weiß nun, wo das Kind herumtrödelt

! in Heinrichslust und ihre Frau Weyland sucht und uicht findet

! und sich Gedanken macht, und ahnt gar nicht, was hier auf dem ! Fensterbrett für sie Parat steht! Wenn es doch uicht der große, ' ernste Herr wäre, der gestern bei uns Klavier gespielt hat! Ich Hab' ihn oft auf der Straße getroffen, immer so finstere Augen macht er und ist immer in Gedanken und sieht keinen Menschen recht an; das ist kein Mann für unser Kind! Musik machen, ja,

das kann er, und Maler soll er sein; ob er aber eine Frau er­

nähren könnte?"

Zehn Frauen, Alte, nicht bloß eine!"

Na, Gottlob, in der abscheulichen Türkei leben wir hier nicht! Also er könnte es? Wenn auch! Mir gefällt der andere besser, der Schöne, Blonde, so mild und gut sieht der aus, und künf­tigen Sonntag geh' ich in seine Predigt. Da läutet es wieder das Vögelchen ist das nicht, bei der klingt es anders!"

Es dauerte eine Weile, ehe Agathe wieder hereinkam, aber Thekla nahm dennoch ihr Buch nicht wieder auf. Sie war nachdenklich geworden, sie beschäftigte sich innerlich mit Annies