Heft 
(1985) 39
Seite
90
Einzelbild herunterladen

Stand seine Ehre habe, die er mit der Erinnerung an Chamissos Portrait- gedichtDie alte Waschfrau bekräftigt (23), besitzt Hinweisfunktion. Dahinter steht ein soziales Leitbild, das sich merkwürdig genug bis in jenen zwielichtigen Randbezirk der illegitimen Geschlechterbeziehungen auswirkt, den die Liebesgeschichte aufsucht und der neben den beruflichen Beziehungen als der einzige erscheint, wo die Lebensformen einander über­schneiden. Die Erzählung gibt zu verstehen, daß dieser Bezirk auf der einen Seite an schärfere Arten von Prostitution grenzt, als sie jetzt die Frauen betreiben, die mit Bothos Kameraden, von denen sie ausgehalten werden, in die Zurückgezogenheit von Hankeis Ablage eindringen. Auf der anderen Seite steht Frau Dörr, welche dieselbe Denkart und denselben Lebensplan verwirklicht, die sich bei der Besseren und Reiferen unter den Frauen wiederfinden. Frau Dörr, versichert Lene, spricht von ihrem jahrelangen Verhältnis mit dem Grafenwie von einem unbequemen Dienst, den sie getreulich und ehrlich erfüllt hat, bloß aus Pflichtgefühl. (33) Es sind Geldverhältnisse, an deren Ende die Versorgung steht und die im Selbst­verständnis der Figuren nicht grundsätzlich von anderen Dienst-, das heißt Arbeits- und Abhängigkeitsverhältnissen getrennt werden.

Man kann nicht genug bewundern, daß es gelungen ist, in diese Welt den Traum vom ganzen Menschen und vom Glück leibhaftig zurückzuführen, ohne daß die Wirklichkeit des Lebens, der Glückstraum oder das mensch­liche Leitbild Schaden nehmen. Der Märchentraum wird wahr, aber gefolgt vom Erwachen, und Lene, dieanders war als andere (136), entgeht der Gefahr, sich ins Vor- oder Wunschbild zu verwandeln, die ihr droht, weil das Leitbild auf sie übertragen wird.

So wie sie auftritt, gibt es keinerlei Grund, sie mit dem hochgreifenden Entwurf des ganzen Menschen in Verbindung zu bringen, der ebenfalls aus vorindustrieller Zeit stammt und insofern mit dem sozialen Interpretations­muster korespondiert, das unter dem modernen Erscheinungsbild von Irrungen, Wirrungen zum Vorschein kommt. Auch kein Denkanstoß in dieser Richtung beeinträchtigt die schwierige Balance zwischen Lenes sozialer Unterlegenheit und der menschlichen Gleichrangigkeit, mit der sie dem Geliebten begegnet. Es verrät gleich viel Menschenkenntnis und Kunst­verstand, daß Botho erst mit dem Entschluß zur Trennung beginnt, sich über seinen Verlust Rechenschaft zu geben. Lenes Profil wird durch Rienäckers wiederholte Bemühungen, sein Bild des Mädchens auszuarbeiten und sich ihrer Persönlichkeit zu versichern, immer differenzierter und grundsätzlicher festgelegt. Namentlich in seiner Bestimmtheit geht dieses Profil weit über das hinaus, was vom Original sichtbar geworden ist. In der entstehenden Spiegelungsbeziehung kommt es zu keinen Wider­sprüchen; Bothos Behauptungen vertragen den Vergleich. Aber noch weniger entsteht Kongruenz. Je definitiver die Vergangenheit und je leb­hafter die Erinnerung, desto deutlicher treten an Lene Wesenszüge hervor, die sich zu einem unverkümmerten und harmonischen Ganzen zusammen­fügen und die Überzeugungskraft der Gestalt eher steigern als herab­mindern.

Auf den Kern stößt Botho bereits während seines Ausritts, bevor ihn der Anblick der Fabrikarbeiter an Arbeit, Ordnung und Ehe gemahnt und ihm

90