Lene vors innere Auge ruft. Zu Beginn sieht er sie und sich hingegen noch einmal im Bannkreis des Märchenhaften: „Jeder Mensch ist seiner Natur nach auf bestimmte, mitunter sehr, sehr kleine Dinge gestellt, Dinge, die, trotzdem sie klein sind, für ihn das Leben oder doch des Lebens Bestes bedeuten. Und dies Beste heißt mir Einfachheit, Wahrheit, Natürlichkeit. Das alles hat Lene, damit hat sie’s mir angetan, da liegt der Zauber, aus dem mich zu lösen mir jetzt so schwerfällt.“ (96) Was sich als menschlicher Vorzug darstellt, entpuppt sich als soziale Qualität, sobald Botho den Gedanken wieder aufnimmt. „Ich hab eine Gleichgültigkeit gegen den Salon und einen Widerwillen gegen alles Unwahre, Geschraubte, Zurechtgemachte. Chic, Tournure, savoir faire — mir alles ebenso häßliche wie fremde Wörter.“ (97) Lene ist der Mensch, den es in Rienäckers Gesellschaftssphäre nicht gibt, weil ihn die junkerliche Lebensform nicht hervorbringt. Sie erzeugt nur die Faszination durch ihn, denn er verbirgt sich unter keiner Schminke, ist nicht durch Anpassung verbogen und wird nicht durch vornehmen Schliff entstellt. Hundert Jahre früher hätte Rienäcker von Politur gesprochen.
Diese Faszination flammt wieder auf, als der Werkmeister Franke beim früheren Liebhaber ein Leumundszeugnis der Frau einholt, die er heiraten will; sie verdrängt — im Verein mit dem „Freimut“ und der „untadeligen Gesinnung“ (135 f.) auf beiden Seiten, der gewahrten Umgangsform und der Komik, die bei ihrer Überschreitung freigesetzt wird — das Fragwürdige aus der ungemein heiklen, im Grunde grotesken Szene. In dem Portrait, das Botho für Franke entwirft, tritt als bestimmender Zug, der Lenes Ungewöhnlichkeit erklärt und rechtfertigt, ihre Selbstgewißheit hinzu, die ihrem Denken, Reden und Handeln ein und dieselbe Freiheit und Aufrichtigkeit verleiht. „Sie hatte sich von Jugend an daran gewöhnt, nach ihren eigenen Entschlüssen zu handeln, ohne viel Rücksicht auf die Menschen und jedenfalls ohne Furcht vor ihrem Urteil.“ (137)
Dem anderen Mann schildert Botho Lene als einen Menschen unter Menschen und nicht ohne eine gewisse Einseitigkeit. Auf das Ganze der Persönlichkeit besinnt er sich, als Lene aus den Briefen, die er verbrennt, noch einmal zu ihm spricht. „Ach, sie hatte die glücklichste Mischung und war vernünftig und leidenschaftlich zugleich. Alles, was sie sagte, hatte Charakter und Tiefe des Gemüts.“ (150) Die Genesis dieser exzeptionellen Individualität ist nicht motiviert, es bleibt freigestellt, die Unbestimmtheitsstelle ihrer dunklen Herkunft dementsprechend auszufüllen. Bei Botho deutet sich wenigstens ein Zusammenhang seiner Denk- und Gemütsart mit der Körperlichkeit des großen und schönen Mannes an, aber dennoch wird nicht hinter die „Natur“ zurückgegangen, die ihn auszeichnet (obwohl er ja in Person und Fall des Ulanen Rexin mit seiner schwarzen Jette einen Gefährten erhält). Woher Lenes Kraft zur Unabhängigkeit, Bothos Empfindlichkeit für menschlichen Wert und Unwert stammen, entzieht sich dem Einblick und der sozialen Zuschreibung. Überhaupt wird die soziale Qualität der beiden Hauptgestalten statt in ihrer Entwicklung in ihren Einstellungen und Verhaltensweisen sowie deren Bewertung gegeben. Dabei kann es sich nur um ihr Verhältnis zu den sozialen Lebensformen handeln, aus denen sie kommen, zu denen sie durch ihre Liebe in Wider-