Heft 
(1985) 39
Seite
95
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hältnisse voraussetzen und einschließen. Insofern bekräftigen sie das kon­forme Sozialverhalten, das sich im Verlauf der Begebenheit alternativlos durchsetzt. Sie passen zu dem Gesellschaftsbild der Erzählung, einer Ord­nung, die als gegeben und stabil hingenommen wird. Hingegen rechnet man inStine,dem schwächerenSeitenstück 2,1 zuIrrungen, Wirrungen, unter sonst ähnlichen Prämissen bereits mit dem großen Rad der Ge­schichte, das erneut in Umschwung geraten wird.

Irrungen, Wirrungen kann ohne diese Überlegung auskommen. Die ver­borgene Hinfälligkeit des sozialen Gebäudes, worin das Leben weitergeht und-der Einzelne sich einzurichten hat, ergibt sich hier in klassischer Einfachheit und Grundsätzlichkeit aus dem verhängnisvollen Gegensatz der gesellschaftlichen Rangordnung zur sittlichen Wertordnung, unter dem die besseren Naturen am meisten zu leiden haben. Für Botho und Lene als handelnde Figuren erbringen die Ehen, die sie eingehen, die gesell­schaftliche Sicherstellung und eine ungewisse Chance zum kleinen Glück. Für das exemplarische Menschenpaar, als das sie in die Liebesgeschichte eingetreten sind, versagt diese Sinngebung, und in der Spiegelungsbezie­hung entwickeln die Eheschlüsse katastrophale Bedeutung. Die neuen Be­ziehungen zwischen Mann und Frau, die sich anbahnten, werden ersetzt durch Mißverhältnisse gewöhnlichster Art. Botho findet sich an die Ver­körperung gerade jener Geselligkeitsform gefesselt, vor der er zu Lene geflüchtet war. Und die mit Natürlichkeit, Leidenschaft und einerfeine(n) Sinnlichkeit (77) begabte Lene gerät in die Arme eines gewiß ehrenwerten, ja liebevollen Fünfzigers, der sich religiösem Sektierertum hingibt. Die Verkümmerung, die ihnen bevorsteht, hat, als sie sich in diese Bindungen fügen, bereits begonnen.

Viel Freud, viel Leid, meint Rienäcker, als ihm etwas davon aufgeht. Irrungen, Wirrungen. Das alte Lied. (150)

Anmerkungen

1 Theodor Fontane: Romane und Erzählungen. Berlin und Weimar 1969, Bd. 5. Irrungen, Wirrungen, stine. Quitt. S. 529.

Die im Text in runden Klammem erscheinenden Zahlen verweisen aui die Seiten dieser Ausgabe der Erzählung, die von Jürgen Jahn besorgt wurde; ihre Anmer­kungen unterrichten austührlich über Entstehung und Resonanz. Weitere auf­schlußreiche Materialien sind enthalten in: Erläuterungen und Dokumente. Theodor Fontane: Irrungen, Wirrungen, Hrsg. v. Frederick Betz. Stuttgart 1979 (Reclams Universal Bibliothek Nr. 8146 [2]). Dort sowie bei Charlotte Jolles: Theodor Fontane. 3., durchgesehene u. ergänzte Auflage. Stuttgart 1983 (Samm­lung Metzler M 114) ist auch die umfangreiche Forschungsliteratur nachgewiesen. Die vorliegende Interpretation weiß sich in Zustimmung und Widerspruch zahl­reichen Vorleistungen verpflichtet, die im gegebenen Rahmen nicht alle genannt werden können.

2 An Wilhelm Friedrich, 5. November 1882. Fontanes Briefe in zwei Bänden. Aus­gewählt u. erläutert v. Gotthard Erler. Berlin u. Weimar 1968. Bd. 2, S. 87.

3 An den Verlag Salo Schottländer, 11. September 1881. Dichter über ihre Dichtungen. Bd. 12/11. Theodor Fontane. München 1973. Hrsg. v. Richard Brinkmann in Zu­sammenarbeit mit Waltraud Wiethölter, Bd. 2, S. 266.

4 In der historischen NovelleSChach von Wuthenow mochte er sich dazu nicht verstehen und begnügte sich mit dem Fingerzeig auf dieZeit des Regiments Gensdarmes im Untertitel.

5 Zum Wortgebrauch vgl. Fontanes ironische Anspielung auf die Mißfallensäuße­rungen, mit denenIrrungen, Wirrungen beim Vorabdruck zum Teil aufgenom­men wurde, ln seinem Brief an Ludwig Pietsch, 10. Februar 1888:Wenn ihre Güte Veranlassung nehmen wollte, der Welt zu versichern, daß der Roman selbst nicht zu den großen .Irrungen zählt und jedenfalls nicht die Absicht hatte, die