VI. Spätwerk und Altersstil
Zur „Stechlin“-Interpretation (man denke an die jüngsten Arbeiten von Ch. Jolles, Kl. R. Scherpe, J. Müller, G. W. Field) trug E. Sagarra aus speziellem Blickwinkel bei.
Mit Nachdruck verwies sie auf Geschichtsbezüge, ohne die Textstrukturen im einzelnen dazu in Beziehung zu setzen. Preußen zwischen England und Rußland, Arbeiterklasse und Sozialdemokratie, Adel und Bourgeoisie unter den Bedingungen der neuen kapitalistischen Entwicklung nach 1871 und deren Verhältnis zu Staat, Bismarck, den Nationalliberalen, aber auch „gouvernementalen Feudalen“ rückten ins Zentrum. Hier wurde wertvolles Wissen ins Blickfeld gerückt, ohne das künftige Interpretationen des Textes schwerlich auskommen werden.
K. Richters subtile Gedichtanalysen haben die Neubewertung der späten Lyrik Fontanes eingeleitet (vgl. „Fontane-Blätter“, H. 35, S. 339—347). Einzelne Beobachtungen an Glanzstücken dieser verbummelten Altersweisheit sind nun zusammengefaßt worden und bilden in dieser Kennzeichnung die einzige auch historische Wegleitung für Editoren und Kommentatoren (im Aufbau-Verlag wird die erste Gesamtausgabe aller lyrischen Texte vorbereitet). Der Beitrag ist in diesem Heft 39 abgedruckt.
Und erneut bewährte sich die kluge Anordnung der Beiträge (Konzeption: Walter Müller-Seidel), als nämlich I. Mittenzwei von anderem Material her über den Altersstil (der Briefe) vortrug. Sprachlich war dies einer der geschliffensten Vorträge.
Indem die Referentin die Altersbriefe (etwa 1 500 aus den Jahren 1880 bis 1890) eine Form zwischen Essay und Gespräch nannte, führte sie an diesen Texten die für Fontane bezeichnende Öffnung des ganz Privaten ins Allgemeine und historisch Bedeutsame vor, ohne daß diese Texte darum den Zauber des Einmaligen verlören. Außer Frage steht, daß dies eine Kunstleistung von hohem Rang darstellt.
Kurz zuvor war ähnliches von K. Richter gezeigt worden: Der monologische Charakter der Alterslyrik birgt (indirekt) vielfache dialogische Momente — als Angebot für den Leser.
Indem vordergründige Altersresignation thematisiert wird (Abstand von der Gegenwart) entstehen „Spielräume für Nuancierungen“ — öffnen sich Gedicht und Briefe für Zeiterfahrung und Weltgeschichte. Betonte Subjektivität transportiert betonte Wahrhaftigkeit. Gibt sich diese als Suche (I. M. zeigte, daß viele Briefe Briefe über Gespräche sind), wird nicht nur der diskursive Erzählstil der späten Romane vordisponiert — der Vergleich ermöglicht es auch, das Existentielle dieser Kunstform zu erkennen, das als Ganzes eine unverwechselbare Autobiographie eigenen Stils bildet. Fontane hat andere autobiographische Texte verfaßt (vgl. die Ausgabe des Auf bau-Verlages, Berlin und Weimar 1983, 3 Bde). Er hat darüber hinaus Tagebücher geschrieben und Notizbücher (die vieles enthalten: Daten und Briefentwürfe, Notate zu „Wanderungen“ mit Skizzen, Vor- und Zwischenstufen des Erzählwerkes, Betrachtungen über Kunstausstellungen, Theater, einzelne Zeitgenossen).
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