Heft 
(1906) 07
Seite
150
Einzelbild herunterladen

-° 150

so lange unbekannt geblieben war. Aber daß ich so weit mich vergessen konnte, über Glück und Leben einer Anderen hinweg diesen Mann, den ich liebte, an mich zu reißen, ihn an Rücksichtslosigkeit zu überbieten, ohne zu warten, ob auch seine leidenschaftliche Empfindung stark genug sein möchte, ihn die Stimme seines Gewissens überhören zu lassen das wird mich in Ihrer Hochachtung nicht eben befestigen.

Als ein gescheiter Kopf, an dem ein Jurist verdorben war, wie mein Vater gescherzt hatte, war ich auch um Gründe nicht verlegen, meine selbstsüchtige Überzeugung zu rechtfertigen.

Sollten hier wirklich zwei Menschen für ihr ganzes Leben auf ihr bestes, einziges Glück verzichten, nur damit eine Dritte nicht zu Schaden komme? Und stehe es denn auch fest, daß diese Dritte lebensgefährlich dadurch getroffen werden würde? Gerade was Annies einziger Reiz war, die weibliche Zartheit und Ergebung, werde ihr über den Schmerz der Enttäuschung hinweghelfen und wahrscheinlich bald dazu führen, daß sie einen Ersatz für das Verlorene fände. Wäre es denn die erste Verlobung, die aufgehoben wurde, weil die Charaktere nicht zueinander paßten? Und würde er, wenn er auf seinem Entschluß verharrte, überhaupt hoffen können, sie glücklich zu machen, da sie mit der Zeit wohl empfinden würde, daß sie ihn nicht beglücken könne?

Ich sprach lange so fort. Meinem Verstände war es leicht, dies ganze Räsonnement als unwiderleglich hinzustellen. Auch erwiderte er kein Wort. Er hatte, da wir nun zurückkehren muß­ten und der Wind vom Lande kam, die Ruder ergriffen und bewegte sie mit kräftigen Stößen. Ich sah, daß es ihm Be­dürfnis war, allein zu sein und sich mit seinem streitenden In­nern ins Reine zu bringen. Vorläufig erwartete ich ja auch kein zustimmendes Wort. Daß er über Nacht das Gewicht meiner Gründe klar einsehen würde, stand mir außer Zweifel.

Wir hatten uns mit einem stummen Händedruck getrennt. Den Rest des Tages blieb ich auf meinem Zimmer und erschien auch nicht bei dem gemeinsamen Abendtisch. Ich war in einem seltsam aufgeregten Zustande, wie wenn mich Flügel über die niedere Erde hintrügen. Zuweilen, das fühlte ich wohl, regte sich ein Bedenken, ob ich auch richtig handelte, und wollte mich aus meiner sicheren Höhe herabziehen. Ich widerstand aber tapfer. Einmal sollte mir doch meine Ver­nunft, die mir so wenig zum Glück verholfen hatte, auch einen Dienst leisten, alles Feige, Kleinliche, sogenannt Moralische Niederkämpfen, das einer freien Seele unwürdig wäre. Ich war mir des reinen Willens und der Kraft dazu bewußt, diesen lieben, edlen Menschen, den ein schwächliches Mitleid für sein ganzes Leben unselig machen wollte, auf einen höheren Standpunkt zu erheben. Ein ewiger Vorwurf wäre mir's gewesen, wenn ich ihn sich selbst überlassen hätte.

Die Aufregungen dieses Tages aber und das ewige Grübeln hatten mich erschöpft. Schon wollte ich früher, als ich gewohnt war, zu Bett gehen, als an meine Tür gepocht wurde. Herein trat eine Hausgenossin, die ich sonst immer gern bei mir gesehen hatte, heut aber lieber nicht empfangen hätte die Mutter der Braut.

Verzeihen Sie, liebes Fräulein, sagte die gute Frau, daß ich noch so spät bei Ihnen eindringe. Aber wenn ich's nicht vom Herzen herunter habe, was schon seit Tagen daraus lastet, ist an Schlaf für mich nicht zu denken, und noch viel weniger für mein armes Kind. Sie sind heute wieder mit meinem Schwiegersohn in die See hinausgefahren, diesmal allein. Was im Hause darüber geredet wird, kümmert mich nicht. Meine Annie aber hat sich so darüber aufgeregt, daß der Doktor große Mühe gehabt hat, einen heftigen Nerven- anfall zu bekämpfen. Das dürfe sich nicht wiederholen, hat er gesagt, oder er stehe für nichts. Aber wie soll das ver­mieden werden, wenn alles bleibt, wie es ist. Es liegt mir fern, Ihnen eine Schuld daran zu geben. Sie können nichts dafür, daß Sie liebenswürdig sind, und da Sie gesund und schön und gebildet sind, all das mehr als meine Tochter, kann man's dem Bräutigam nicht verdenken, wenn Annie in seinen

Augen neben Ihnen verliert. Nicht daß ich an ihm zweifelte. Aber er muß sich sichtbar Mühe geben, trotz alledem in seiner Liebe zu seiner Braut nicht kühler zu werden, und sie empfindet es und verzehrt sich in Gram darüber. Wenn das so fort­geht, seh' ich voraus, daß sie mir unter den Händen hin­schwindet und eines Tages auslöscht, wie ein Licht. Nun aber habe ich schon zwei liebe Kinder verloren, und wenn ich auch das dritte und letzte hergeben soll

Die Tränen unterbrachen ihre Rede, sie sank auf einen Stuhl, und ich hatte große Mühe, sie zu beruhigen. Sie er­zählte mir, als sie sich erst wieder gefaßt hatte, von ihren: Leben, das kein leichtes gewesen war, von den beiden Kindern, die sie verloren, und wie sie gehofft hatte, das Glück ihrer Annie werde sie für alles Ausgestandene und Verlorene entschädigen. Was soll ich Ihnen die peinliche Szene ausführlich schildern? Genug, als sie mich eine Stunde später verließ, umarmten wir uns unter Tränen, und sie nahm mein Versprechen mit, am nächsten Morgen in aller Frühe abzureisen.

Kaum war sie aus dem Zimmer, so bereute ich, daß ich ihr nachgegeben hatte. Mit ihr und den: kranken jungen Wese:: hatte ich Mitleid gehabt aber auch selbst mit meinen: Freunde, wenn ich das Opfer, das ich selbst brachte, gar nicht rechnen wollte? Welch einer Zukunft überließ ich ihn, an der Seite einer kränklichen, ungeliebten Frau, die an seinem geistigen Leben keinen Anteil nahm? Mußte er eine Übereilung wirk­lich so schwer büßen, da auch sein Gewissen kann: Einspruch tun konnte, wenn er sich scheute, dies Mädchen zur Mutter seiner Kinder zu machen, die vielleicht ihr nacharten würden?

Und doch soviel ich grübelte, das dumme Herz ent­schied. Sie selbst haben ja gesagt:Der arme Kopf gibt

immer nach, weil er der Klügere ist von beiden". Und so bin ich am anderen Morgen vor Tau und Tage abgereist und habe meinem Freunde nur einen Zettel mit einem einsilbigen Lebewohl hinterlassen und dem Wunsch, daß er sich Mühe geben möchte, glücklich zu werden.

Eine Antwort darauf habe ich nicht erhalten.

Es blieb eine Weile ganz still zwischen uns beiden. Dann sagte sie: Der Zug fährt langsamer, ich werde gleich an: Ziel sein. Das Gut, das mein Bruder bewirtschaftet, liegt

eine Stunde von der nächsten Station entfernt, und sein Wagen erwartet mich. Ich möchte Ihnen nun noch danken für die Geduld und Teilnahme, mit der Sie mich angehört haben. Und glauben Sie nicht, daß ich mich beklagenswert fühlte. Auch wie ich auf Umwegen hörte, die Verlobten hätten sich bald darauf geheiratet, die junge Frau sei völlig gesund geworden, gab es mir keinen neidischen Stich ins Herz. Das Erlebnis lag völlig abgeschlossen hinter mir; wenn ich daran zurückdachte, fühlte ich nur wieder Dank für das Glück, daß ich das hatte kennen gelernt, was das süßeste im Leben ist, das völlige Hingeben unserer Seele ckn eine andere, da, wie gesagt, Geben seliger ist als Nehmen. Und ich hatte doch auch zurück­empfangen. Der Dank dafür konnte nie in mir erlöschen, und vielleicht gerade, weil es so kurz gewesen war, hatte das Gefühl nicht Zeit gehabt, schwächer werden und seine Zauberkraft zu verlieren. Man muß halt verlieb nehmen lernen! suchte sie zu scherzen, um ihre Bewegung zu bezwingen.

Dann hielt der Zug. Sie stand auf, und ich half ihr zu ihrem Handgepäck, während der Schaffner in der Tür des Coupes erschien. Auf dem Bahnsteig sah ich einen Herrn in einem Jagdanzug, neben dem zwei Kinder standen, ein Knabe von sieben Jahren und ein etwas jüngeres Mädchen, die beim Anblick meiner Reisegefährtin in großen Jubel ausbrachen.

Sie hatte sich mit einer lieblich freundschaftlichen Gebärde von mir verabschiedet, zeigte draußen noch einmal nach mir zurück, worauf der Herr höflich die Mütze zog, mich zu begrüßen. Dann setzte sich der Zug in Bewegung, und die Gruppe ent­schwand meinen Augen.