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Jahr und Tag waren nach dieser Begegnung, die mir in wärmster Erinnerung blieb, vergangen, da erhielt ich aus einer norddeutschen Universitätsstadt ein Blatt mit der Vermählungsanzeige eines mir unbekannten Professors mit einem Fräulein, dessen Namen mir unvergeßlich war.
Sie selbst, die Neuvermählte, hatte hinter der gedruckten Anzeige ein paar Zeilen hinzugefügt: „Fast gerade an dem Tage, wo ich von der armen Annie Ihnen erzählte, ist sie aus dem Leben geschieden, nachdem sie einem Kinde das Leben gegeben hatte. Wie gut von dem -armen Kopff, daß er der Klügere war! Hätt'
ich des Glücks, das mir jetzt beschieden worden, froh werden können, wenn ich's auf Kosten einer Anderen mir angeeignet hätte? Ich brauche mir nicht erst Mühe zu geben, dem Kinde, das mir nun gleich mit dem geliebten Manne beschert worden ist, eine gute Mutter zu sein. Wenn aber der Himmel mir noch eine eigene Tochter gönnt, die dann vielleicht erblich belastet ist, will ich nach Kräften dafür sorgen, daß man ihr den Namen, unter dem ihre Mutter gelitten, nicht aufbringen soll, obwohl es kein Unglück ist, Verstand zu haben, wenn man nur im rechten Augenblick auch das Herz auf dem rechten Fleck hat".
Die Not der Deutschen Heimarbeiter.
Die Deutsche Äeimarbeits-Ausstellung in Berlin.
Von Paul Schlesinger.
Wb. 1. Leimarbeiterin mit fertiger Ware auf dem Wege zur Fabrik.
nter den grell leuchtenden Plakaten, die von den Anschlagsäulen herab das Berliner Publikum tagtäglich in rauschende Vergnügungen locken, ist ein Spielverderber aufgetaucht. Aus einem braunen Nebel blickt da ein todblasses, unsäglich elendes Weiberantlitz in das matte Winterlicht der Straßen. Das dünne strähnige Haar ist glatt zurückgestrichen, die Wangen sind hohl, und die eingesunkenen Augen schweifen glanzlos über die flüchtigen Menschen.
Nur ab und zu bleibt einer stehen und schaut furchtgebannt in das bleiche Elend, und er begreift, daß dieser breite, harte, lippenlose Mund nie gelächelt hat. Der bange Mensch da unten fühlt ein dunkles Erinnern. Schon einmal in seinem Leben war er von einem Kunstwerk so tief getroffen worden. Es war im Theater, und Gerhart Hauptmanns „Weber" wurden damals gegeben . . .
Auch das bleiche Weib da oben lockt, und ganz friedlich und beschaulich lesen sich die Worte „Deutsche Heimarbeits- Ausstellung in der alten Akademie". Dem einen klingen sie wie trauliche Behaglichkeit, er hört nur das „Deutsche Heim". Dem anderen tönen sie gar wie eine jubelnde Fanfare — „Deutsche Ausstellung"! Wir stellen ja gewöhnlich das aus, worauf wir stolz sind.
Andere wissen, um was es sich handelt. Im März des Jahres 1904 tagte in Berlin ein Kongreß, der darüber beriet, wie den in tiefster Not lebenden Deutschen zu helfen sei, die nicht in den großen Hellen, von der Gesundheitspolizei kontrollierten Fabrikräumen, sondern in der dürftigen Enge der eigenen Behausung ihr hartes Tagewerk verrichten. In den Versammlungen, die das eine erfreuliche Bild zeigten, daß hier die Sozialreformer fast aller politischen Parteien sich vereinigten, fiel manch leidenschaftliches Wort.
Denn mehr als alle statistischen Tabellen bewies damals eine kleine Ausstellung die bittere Not, in der eine halbe Million Deutscher fern von dem Segen europäischer Kultur und ihrer leuchtendsten Erscheinung, der Hygiene, vegetiert. Die Erzeugnisse jener Ärmsten waren dort ausgestellt.
Auf kleinen Zetteln war vermerkt, was der Arbeiter an jedem Stück
verdient hatte. Und diese Zahlen wurden in den Herzen der Kongreßmitglieder zum glühenden Mitleid, das all den haßerstarrten Parteihader schmelzen ließ: Bürgerliche Organi
sationen und Sozialdemokraten reichten sich hier die Hände, um gemeinsam an Besserung und Linderung des Übels zu denken. Eine Resolution wurde gefaßt, die nicht mehr und nicht weniger als die gründliche Ausrottung der Hausindustrie zum eigentlichen Ziel hatte.
Allzu besonnene Männer warnten vor einer Durchführung des Programms; aber sie verkannten, daß man sich auf dem Gebiete der Sozialreform weite, Ziele stecken muß, wenn man wenige Schritte vorwärts kommen will. Und den einen Erfolg hatte der Kongreß: die gellenden Notschreie der Armen waren gehört worden, freilich nicht erhört. Aber sie hatte:: schon manch fühlendes Herz getroffen.
Es war der einzige Erfolg des Kongresses. Und deshalb beschlossen die Organisationen, die in stiller, treuer Arbeit für die Besserung jener Zustände sorgten, ein zweitesmal den Schrei ertönen zu lassen. Sie veranstalteten diese neue Ausstellung.
Wer die Räume des alten Akademiegebäudes betritt, empfindet zuerst etwas wie Enttäuschung. Dort stehen, hängen, liegen die Erzeugnisse einer nicht sehr eleganten Konfektion, große Tische sind mit Wäschestücken bedeckt, die auch nicht den Anspruch erheben, den Gipfel des Komforts und des Luxus darzustellen. Aber die Arbeit selbst ist es ja nicht, die uns gezeigt werden soll, und wenn hie und da der Werdegang irgend eines Gegenstandes angedeutet ist, so empfinden wir das fast als überflüssige Zugabe. Unsere Aufmerksamkeit gilt nicht den Waren, sondern jenen kleinen Zetteln, die uns den Lohn bezeichnen, für den der Arbeiter das Stück geliefert hat. Und wie jenes Bild des Elends an der Anschlagsäule uns den ersten unvergeßlichen Eindruck gab, so starren wir jetzt auf jene Zettel, die uns mit ihren kargen Zahlen tief, tief bewegen; in der Lektüre dieser Zettel erleben wir das unendliche Elend
Abb. 2. Gestrickter Kragen.
(Verdienst nicht ganz fünf Pfennig in der Stunde.)