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Seitdem jedoch durch die Reichstagswahlen vom Januar 1905 diese Partei zur stärksten Partei, wenn auch noch nicht zur absoluten Majorität des ungarischen Reichstags geworden ist, hat sie sich zum entscheidenden Faktor im parlamentarischen Leben Ungarns herausgebildet, und dies in Verbindung mit anderen kleinen Parteien, der katholischen „Volkspartei" und den sogenannten Dissidenten. Unter der Führung Franz Kossuths, des Sohnes des verstorbenen Diktators von Ungarn, und des Grafen Albert Apponpi stehend, stellt sie vor allem die Forderung nach einer durchaus selbständigen ungarischen Armee auf. In diesen Gedanken der militärischen Emanzipation von Österreich hatten sich die Magyaren vielfach in der Besorgnis hineingelebt, es könnte in entfernteren Tagen — nach Ableben etwa des gegenwärtigen Monarchen - eine Zeit kommen, in der ein zukünftiger Herrscher in gleicher Weise der ungarischen Verfassung und der ganzen ungarischen Entwicklung entgegenzutreten versuchen würde, wie dies Kaiser Franz Joseph im ersten Jahrzehnt seiner Regierung getan hatte. Würde dies sich je Zutragen, so wollen die Ungarn solcher Möglichkeit mit ihrem eigenen von ungarischem Nationalbewußtsein erfüllten Heere gegenüberstehen. Schon bis jetzt gab es neben der gemeinsamen österreichisch-ungarischen Armee und der besonderen österreichischen Landwehr eine ungarische Landwehr, Honveds genannt, die den Eid auf die ungarische Verfassung zu schwören haben. Die Honveds jedoch genügen lange nicht mehr dem ungarischen Nationalbewußtsein, das nun noch viel mehr verlangt und jene Hälfte der Reichsarmee, die in Ungarn steht, in ebenso durchaus nationalem Geiste auszugestalten strebt wie die Honveds. Während noch die frühere Generation ungarischer Staatsmänner, also diejenigen, die bei dem 1867er Ausgleich Pate gestanden hatten, die Punkte im Gesetzartikel 12 vom Jahre 1867, die „das ungarische Heer" betreffen, in der Richtung auslegten, daß damit nur die Honveds gemeint sein könnten, beziehen die gegenwärtigen maßgebenden Führer der Unabhängig keitsbewegung in Ungarn all dies auf jenen Teil der Armee überhaupt, der sich aus Ungarn rekrutiert oder in Ungarn steht.
Der Kampf zwischen der Krone und der ungarischen Reichs tagsmehrheit gipfelt darin, daß die erstere jenes kaiserliche Heer nicht ganz preisgeben will, dessen Fahnen schon in den Tagen Wallensteins, des Prinzen Eugen von Savoyen, dann bei Aspern und in der Völkerschlacht von Leipzig ruhmreich flatterten, während die ungarischen „Unabhängigen" auf die kaiserliche Armee, die Reichsarmee, weniger Gewicht legen als auf ein ungarisches Heer, das allerdings an der Seite eines österreichischen unter dem höchsten Kriegskommando des Kaisers von Österreich und Königs von Ungarn die Monarchie nach außen hin zu verteidigen hätte. Ein Hauptmittel zur Herstellung deö ungarischen Heeres erscheint diesen „Unabhängigen" die ungarische Kommandosprache. Bis jetzt gibt es nur eine Kommando spräche, das ist die deutsche, für die Armee, die sich ja noch heute wie Wallensteins Lager aus einem ganzen Dutzend Nationen zusammensetzt: Deutschen, Magyaren, Tschechen, Slowaken, Polen, Ruthenen, Kroaten, Serben, Slowenen, Rumänen, Italienern, Ladinern. Der Kaiser von Österreich oder König von Ungarn beharrt nun darauf, daß an der deutschen Kommandosprache und sonnt auch an der Einheit der Reichsarmee nicht gerüttelt werden soll, während der Kern der ungarischen Reichstagsmehrheit, das heißt die Unabhüngigkeitspartei, sich bis jetzt geweigert hat, ein Ministerium aus ihrer Mitte zu bilden, so lange nicht die sichere Aussicht auf Erfüllung dieses ihres Lieblingswunsches bestünde. Seit einem Jahre steht Ungarn ohne eine konstitutionelle, das heißt der Mehrheit des Parlaments entnommene Regierung da. Zuerst regierte das Kabinett des in den Wahlen vom Januar 1905 schwer geschlagenen Grafen Stephan Tisza, und jetzt ist es seit vielen Monaten der frühere Honvedminister Freiherr v. Fejervary, der an der Spitze der provisorischen von der Reichstagsmehrheit und sogar der liberalen Reichstagsminderheit bekämpften, um nicht zu sagen, geächteten Regierung steht. Der Monarch hatte längst das Verlangen und hegt es noch immer, das unkonstitutionelle Kabinett, das
nicht imstande ist, im Zusammenwirken mit dem Reichstage zu regieren, vielmehr die der gegenwärtigen Regierung durchaus feindlicheil legislativen Körperschaften stets vertagt halten muß, durch eine parlamentarische Regierung zu ersetzen. Am liebsten würde der König voll Ungarn, nur den vielen Wirren ein Ende zu setzen, durch Erteilung des allgemeinen Stimmrechts an die Bevölkerung Ungarns, wodurch Millionen auch von Nicht magyaren (Rumänen, Slowaken, Siebenbürger Sachsen und andere) und Hunderttausende von antichauvinistischen Arbeitern zu parlamentarischer Geltung kämen, den Chauvinismus der „Unabhängigen" ersticken. Allein da der Reichstag in seiner gegenwärtigen Zusammensetzung für dieses dem Koalition^ und insbesondere Unabhängigkeitsregime gefährliche, allgemeine Wahlrecht nicht zu haben ist, so könnte dieses nur verfassungswidrig eingeführt werden.
Da nun die Krone bisher nicht in der Lage war, die Bedingungen anzunehmen, unter denen die sogenannte Koa lition, als deren Mandatar Graf Julius Andrassy — das Haupt der der Unabhängigkeitspartei verbündeten, aber doch auf dem 1867er Ausgleichsstandpunkte befindlichen Dissidenten - wiederholt und zuletzt noch im Januar und Februar d. I. vordem Kaiser in der Wiener Hofburg erschien, eine Regierung zu bilden geneigt schien, so führt noch immer Freiherr v. Fejervary, von der Mehrheit des magyarischen Volkes als eine Art Herzog Alba betrachtet, das Ruder.
In der Tat, nicht gering sind die Wünsche, von deren Erfüllung die ungarische Koalition, insbesondere die Unabhängig keitspartei, die Übernahme der Regierung abhängig macht. Für die Unabhängigkeitspartei ist überhaupt der 1867 er Ausgleich etwas, was zum Wohle Ungarns besser zu Grabe getragen werden sollte. Die den Unabhängigen verbündeten Parteien wiederum deuten den Ausgleich in einen: Sinne, als ob in dem neuen Ungarn noch lange nicht alles verwirklicht wäre, was Franz Denk im nationalen Interesse des Landes gefordert hätte.
Wer sich die Mühe nimmt, die Gesetze vom Jahre 1867 durchzulesen, die als sogenannter Ausgleich in der Zeitgeschichte figurieren, kann sich in der Tat nicht der Wahrnehmung ent- schlagen, daß hier mehr die dehn- und wendbare Sprache der Diplomaten als etwa die feste versteinerte Formel des Gesetzes, die keine abweichenden Auslegungen herausfordert, angewendet ist. Das begreift sich auch, denn dieses sogenannte Gesetz ist eigentlich eine von Deäk abgefaßte Staatsschrist, die als Grundlage eines Gesetzes hätte dienen solle::, in Wirklichkeit aber von dem damaligen ungarischen Ministerpräsidenten, den: Grafen Julius Andrassy, dem Vater, in Paragraphe eingeteilt und als Gesetz vor die parlamentarischen Körperschaften gebracht wurde, ohne den festen Guß eines wahrhasten Ge setzes zu besitze::.
Ein Ausgleich zwischen Österreich und Ungarn, hat dieses sonderbare 1867 er Gesetz eine etwas andere Gestalt in der ungarischen Textierung und eine andere wieder::::: in der österreichisch-deutschen, wie sie damals vor den österreichischen Reichsrat kam. Die daraus sich ergebende Verschiedenheit der Aus legung bildet einen Teil auch des Gegensatzes zwischen Österreich und Ungarn, denn der Konflikt zwischen der ungarischen Krone und der ungarischen Reichstagsmehrheit ist auch von dem Konflikt zwischen der österreichischen und der ungarischen Reichshälfte begleitet. Solange die liberale Partei in Ungarn am Ruder war - - von den Tagen des alten Grafen Andrassy an bis zur Regierung des vor einen: Jahre gestürzten jungen Grafen Tisza — wurde der Friede zwischen Österreich und Ungarn leidlich aufrecht erhalten. Die liberale Partei hielt im Geiste Deaks an den: Programm fest, Ungarns nationale Blüte zu entwickeln unter dem Schirm und Schutze der gemeinsamen Reichsinstitutionen. Diese Partei scheute wohl nicht vor der Absicht zurück, den Schwerpunkt der Monarchie, wenn möglich, nach Ungarn zu verlegen; doch in weiser Voraussicht, daß erst die wirtschaftlichen Hilfsquellen des Landes entwickelt werden müßten, betonte sie es stets, daß Ungarn sich an Österreich anlehnen, daß die Monarchie nach außen hin ein